Sein Ding Machen
Eine ethnologische Feldforschung in der Hip-Hop-Szene Basels

Lorenz Khazaleh

Universität Basel, Januar 2000. Originally published at: http://www.geocities.com/iglu01/hiphop/

AnthroBase.com

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Kron

Inhalt

1. Eintauchen, Black Tigers Birthday Jam
Breakdance
Rap
DJ 
Graffiti 
Das Publikum

2. Lesen, Hip-Hop und Ethnologie
Musik ist mehr als Sound... 
... doch wo bleibt die Wissenschaft? 
Die unsichtbare Jugend 
Erwachsenennzentriertheit 
Es geht auch anders

TarekA-Man

3. Forschen, als Ethnologe under Hip-Hoppern 
Teilnehmende Beobachtung 
Wie als Outsider eine Szene studieren? 
Themenwahl und Interesse 
Das Vorgehen 
Zu viel Engagement? 
Die Interviews: Ohne Geduld nix los 
"Die richtigen Fragen stellen" 

Kalmoo
Ace
Chejah 4. Fragen, die Interviews
Black Tiger 
Ace 
Mickey Laze 
A-Man und Poet 
Spain Kid 
Kron 
Nicole Schwarz 
Chéjah 
Cozkun 
Tarek 
Kalmoo
Tiger

5. Verstehen. Das Resumee 
Wer gehört dazu? 
"Echte Hip-Hopper fallen nicht auf" 
Aus Aussenseitern werden anerkannte Künstler: Basler Hip-Hop Geschichte 
Die Krux mit dem Kommerz 
"Wenn du es willst, schaffst du es" 
"Ich bin gut und kann das zugeben" 
"Wo bleibt die Family?" 
"Jeder ist sein Planet, jeder seine Filosofie" 
"Es ist egal, woher du kommst, es zählt nur, was du machst" 
"Eine Therapie für alle" 
Mehr Freiraum! 
Nihilismus! Und eine neue kopernikanische Revolution! 

Poet
Cozkun

6. Bibliografie / Links
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Discussion forum: Diskussionsforum zum Austauschen von Information über Feldforschungen, HipHop und Ethnologie



Vorwort

Die Arbeit ist fertig. Endlich. Vor 20 Monaten betrat ich zum ersten Mal eine Hip-Hop-Veranstaltung. Ich war neugierig geworden, was im Basler Untergrund alles unbemerkt von der Oeffentlichkeit vor sich ging. Basel hat eine der aktivsten Hip-Hop-Szenen der Schweiz mit Künstlern, die schweizweit zu den Besten zählen.

Mein Arbeitgeber, die Badische Zeitung in Lörrach, hatte mich wenige Monate zuvor ins Roxy in Birsfelden geschickt, um über das erste Hip-Hop-Theaterstück der Schweiz zu berichten. Neugierig machten mich die Internationalität der Szene und die alternative Lebenswelt, die sie kreierten. So kam es, dass ich die Hip-Hop-Szene Basels als Thema meines ethnologischen Feldforschungspraktikums an der Universität Basel auswählte. Dozentin Dr.Florence Weiss vom ethnologischen Seminar in Basel hatte mich ermuntert, Jugendkultur zu untersuchen, da es an Forschungen über jugendliche Lebensformen mangelt.

Dieser Bericht ist das Ergebnis meiner Forschung. Wie die Forschung, so hatte auch der Schreibprozess sein Eigenleben. Herausgekommen ist ein Bericht, der die Kreativität von jungen Leuten hervorhebt. Dieser Bericht steht in Opposition zu einer Vielzahl von Forschungen, in denen Jugendliche als passive und visionslose Konsumenten dargestellt werden. Er hat sich zum Ziel gesetzt, junge Leute selber zu Wort kommen zu lassen – und zwar nicht zu Fragen, die der Forscher selbst bestimmt, sondern zu Themen, die sie selbst aufwerfen.

Das Herz der Arbeit sind daher die elf Interviews mit einigen zentralen Köpfen aus der Szene. Die Arbeit diskutiert nach einer Einführung kritisch die Rolle von Wissenschaft, Jugend und Hip-Hop. Viel Platz ist der Vorgehensweise, Methodik und den persönlichen Erfahrungen während der Forschung gewidmet.

In einem Resumée wird versucht, die Essenz aus den zahlreichen Beobachtungen, Erlebnissen und Gesprächen zu ziehen und daraus Folgerungen für Jugendpolitik und Ethnologie abzuleiten.

Möglich geworden ist die Arbeit durch die Mithilfe vieler Personen. Dank sei gerichtet an die Ethnologinnen Florence Weiss (Uni Basel) und Sigrid Schilling (damals zuständig für Jugend und Freizeit im Justizdepartment Basel-Stadt), die mich vor allem in der Anfangsphase berieten. Ein grosses Dankeschön gebührt allen Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstlern Basels, die sich so offen zu meinem Forschungsvorhaben stellten (das hatte ich nicht erwartet), mir, dem Unwissenden, bereitwillig Auskunft erteilten, mir Kontakte verschafften, mich an Jams an der Kasse vorbeiwinkten oder mal eine LP oder CD zusteckten. Viel Arbeit hat das Verfassen dieses Berichtes gemacht, für die Durchsicht danke ich Nina Lösing, Philipp Pfäfflin und Tarek Abu Hageb.


Kapitel 1: Eintauchen. Black Tigers Birthday Jam


Lang ist die Schlange vor dem Eingang. MC Black Tiger, einer der angesehensten Basler Rapper, feiert im Sommercasino seinen Geburtstag. Gleichzeitig feiert er die Veröffentlichung seiner ersten CD, "Groovemaischter". Die Besten aus der Basler Hip-Hop-Szene werden auftreten. Ohne Honorar.

Breakdance

Das Sommercasino ist einer der wenigen Orte in Basel, an denen solche Veranstaltungen stattfinden. Aus dieser Villa, die vor 177 Jahren zum "geselligen Zeitvertreib" der Bürgerschaft gegründet worden war, ist ein Kunst- und Kulturzentrum für junge Leute geworden. Seit der Eröffnung 1962 leitet es die Basler Freizeitaktion (BFA). Hier gibt es Tanzstudios, Ateliers, Probelokale (inklusive Aufnahmestudio), Gruppenräume und natürlich die Beiz mit dem Konzertraum.

So voll wie heute ist das Sommercasino wohl schon lange nicht mehr gewesen. Leute stehen dicht an dicht, fetter Sound kommt aus den Lautsprechern, Leute schreien und kreischen, alle, die nicht auf die Bühne schauen können, starren auf die Leinwand. So auch ich. Wir sehen Zuschauer, die einen Kreis um eine Breakdance-Gruppe bilden. Wir schauen, wir staunen. Welch Körperbeherrschung. Sie wirbeln um ihre Körper als seien sie eine Kugel. Springen kopfüber auf eine Hand, biegen den Rücken nach hinten und sehen dann aus wie eine schwebende Banane.

Breakdance ist eine der vier traditionellen Sparten des Hip-Hop. Hip-Hop ist eine Kombination von Kunstformen, die auf der Strasse entstanden sind. Dazu gehören auch Rap, Graffiti und DJ-ing (scratchen und mixen etc). Breakdance ist der "Aussenwelt" am schnellsten zugänglich. Wer etwa lässt sich nicht von dieser Akrobatik begeistern? Für viele ist der Breakdance der Einstieg in die Hip-Hop-Szene. Viele beginnen sehr jung, kaum zehn Jahre alt.

Breakdance ist ein Mix aus afro-amerikanischen Tänzen, brasilianischem Capoeira und asiatischen Kampfsportarten. Mit einer Vorform, dem "Good Foot", hatte der gute alte James Brown mit seinem Hit "Get on the Good Foot" 1969 für Furore gesorgt. Er war ein herausragender Tänzer, der bei Auftritten eine grosse Show abzog. Zu der Zeit war es schon üblich, in den Strassen der South Bronx "Dance Battles" zwischen Gangs auszutragen. Der Good Foot eignete sich gut dazu.

Grossen Einfluss hatte DJ Kool Herc, der - anders als andere DJs - nur die Breaks (Stellen mit Trommelparts) spielte, indem er auf zwei Plattenspielern dieselbe Platte laufen liess und die gewünschten Stellen wiederholte. Die Leute fingen an, "merkwürdige, akrobatische, verdrehte Tanzbewegungen" dazu zu machen, die man dann Breakdance nannte (Stancell 1996 in RANCK/Internet).

Breakdance hat sich mit den anderen Hip-Hop-Sparten Ende der 1960er/Mitte der 1970er-Jahre in der Bronx, einem vorwiegend von Schwarzen bewohnten Slumviertel in New York, entwickelt. Meist wird das Aufkommen der Hip-Hop-Bewegung in Zusammenhang mit der Benachteiligung der Schwarzen gebracht. Sie verarbeiteten darin ihre Erfahrungen als eine an den Rand gedrängte Bevölkerungsgruppe. "Hip-Hop, so US-Rapper KRS-One, "ist die geistige Aktivität unterdrückter Kreativität" (KRS-ONE 1996:1).

In den 70er-Jahren zog die Stadt New York mehrere "Slumbeseitigungs-Projekte" durch (ROSE 1994:27-34 und 1997:146-148). Ihre einfachen Häuser (von Slum konnte keine Rede sein!) mussten schicken Geschäftshäusern weichen. Dramatische Folgen hatte der Bau eines Highways durch die Bronx. 60'000 Häuser wurden abgerissen, über 170‚000 Leute umgesiedelt, viele wurden obdachlos. Gleichzeitig beschloss die US-Regierung Kürzungen im Sozialbudget. Bald war die Bronx in den Schlagzeilen als das Quartier mit der höchsten Kriminalitätsrate. Aus Platzmangel spielte sich das Leben draussen ab. Junge Leute tanzten auf ausgebreiteten Kartons zu Sounds aus dem Kassettenrecorder, sangen und rappten, bemalten triste Wände. Hip-Hop handelt, so DJ Davey D, "von dem Wunsch, gehört und gesehen zu werden" (www.daveyd.com).

Dem Hip-Hop zum Durchbruch verhalf DJ Africa Bambaata. Er brachte die vier Sparten unter einen Hut. Bambaata, in den 70er-Jahren schon einer der grossen New Yorker DJs, war besorgt über die zunehmende Jugendgewalt in der Bronx und fand, die Gangs sollten sich, anstatt sich gegenseitig die Birne einzuschlagen, lieber im Tanzen, Malen, Rappen oder DJ-ing messen. Er gründete für die diese Zwecke die Zulu-Organisation und organisierte regelmässig Wettbewerbe (Battles) – mit Erfolg.

Wettbewerb ist ein zentrales Element im Hip-Hop, gilt es doch, besser sein zu wollen als der oder die andere. Der Wettbewerb ist ein Ansporn, sich ständig weiter zu entwickeln. An grösseren Hip-Hop-Events gibt es Breakdance-Wettbewerbe mit Schiedsrichtern und Punkteskalen. Es geht so seriös zu wie an Kunstturn-Wettbewerben! Durch die Filme "Wild Style" und "Style Wars" wurde Breakdance in Europa Anfang der 80er-Jahre einem weiten Publikum bekannt. Es dauerte nicht lange, und man sah fast in jedem Pop-Video Breakdancer, in "Billie Jean" von Michael Jackson oder in "Dancing in the Streets" (Titel!) von Mick Jagger und David Bowie. Strasssenkultur wurde nach und nach "in", darunter auch Skating und Streetball.

Rap

Das Geburtstagskind betritt die Bühne, begleitet von lautem Beifall. "Basel, bisch guet zwäg?", ruft Black Tiger den Leuten zu. "Basel, this rap is for you." Tiger sagt, er rappe für seine Mutter, die auch da sei. "Mii Muetter isch schwarz. I bii Kosmopolitt, fühl mi do wohl, wo‘s coole Lüt hätt." Er rappt stark und aggressiv, genauso sind die Beats vom DJ. "Rap" ist ein Slangausdruck für "predigen".

Rapper sind moderne "Prediger" oder Geschichtenerzähler, Grossstadt-Poeten. Mehr als in Rock und Pop steht der Text im Vordergrund, der rhythmisch und in Reimform über speziell gemischte Musik gesprochen wird (oft in einem Affentempo!). In schriftlicher Form ähneln sie dramatischen Gedichten (als ich während meiner Forschung Henrik Ibsens Peer Gynt vom Ende des 19. Jahrhunderts las, vernahm ich einen rap-ähnlichen Rhythmus im Text und begann wie bei einem guten Rap mit dem Kopf zu nicken!).

Die Texte sollen nach Tigers Vorstellung vom Publikum verstanden werden. Daher rappte er 1991 als Gast-MC der Formation P27 als Erster auf Baseldeutsch. Mehr als in Rock und Pop wird auf Kommunikation mit dem Publikum Wert gelegt. Das Publikum rappt mit, liefert Stichworte für "Freestyle-Raps", wo der MC ("Master of Ceremony") nach wahllos hingeworfenen Wörtern spontan rappen muss. Nicht immer gibt es einen Sinn (sollte es aber schon!). Wichtiger ist ein guter Reim und der "Flow" der Sprache. Wenn es auch noch lustig ist – perfekt! Oft springen MC-Kollegen auf die Bühne, um mitzurappen. Auf der Bühne tummeln sich immer eine Menge Leute.

Heute ist schon in vielen Sprachen gerappt worden – jeder rappt in seiner Muttersprache: Griechisch, Italienisch, Französisch. Immer wieder wendet sich Tiger ans Publikum. Betont, dass Hip-Hop bedeute, allen gegenüber Respekt zu zollen. Den Leuten beispielsweise, die den Hip-Hop nach Basel brachten wie zum Beispiel MC Greco. "Ohne sie", so Tiger, "wäre Basel nichts." Und fügt an: "Manche verwechseln etwas. Sie meinen, wenn sie jemand sind, bräuchten sie anderen gegenüber keinen Respekt mehr zu zeigen." Tiger: "Des isch Schiessdrägg!". Stürmischer Beifall.

Respekt und Basel sind an diesem Abend die am häufigsten vorkommenden Wörter. Viele MCs wenden sich mit Messages an die Jam-Besucher. Tarek beschwört, alle seien ihren eigenen Glückes Schmied. Ein Rapperkollege hätte nicht kommen können, da er für seine Abschlussprüfung lernen müsste. "Der Rap", sagt Tarek, "ist für alle, die in derselben Situation sind. Strengt Euch an, powert drauf los. Ihr schafft es, wenn Ihr wollt." Tosender Applaus.

Eine der Wurzeln des Rap ist in afro-amerikanischer Geschichte und Kultur zu finden. Manche Rapper sehen Gemeinsamkeiten zwischen westafrikanischen Griots und sich selbst, eine Kontinuität von damals bis heute. Griots sind professionelle Musiker, die in West-Afrika jahrhundertelang als wandernde Geschichtsbücher und redende Zeitungen wirkten. Andere vergleichen sich mit den arabischen Geschichtenerzählern in Kaffeehäusern. Rap ist verwandt mit Soul, Funk, Jazz und Reggae. Vorläufer vom Rap kann man im Scat-Gesang der 30er-Jahre finden, in der Gospelmusik (Gesangspredigt) und im "talking blues".

Charakteristisch ist die Dialogform des Gesangs ("call and response"). Amerikanische Radio-DJs "rappten" schon in den 40er-Jahren - man nannte es allerdings noch nicht so. Ein unmittelbarer Vorläufer des Raps war das "Toasting" auf Jamaica. DJ Kool Herc brachte es 1972 von dort nach New York: Beim Toasting rezitiert man improvisierte Reime über Reggae-Musik.. Zu der Zeit standen die New Yorker nicht auf Reggae, also begann der DJ auf die Instrumental-Parts bekannter Hits zu sprechen. Da diese Teile nur kurz waren, lernte er, sie ins Unendliche zusammen zu mixen. Dazu nahm er zwei Platten desselben Stücks und ein Mischpult. Aus einfachen Anfeuerungsrufen wie "Throw your hands in the air" wurden Kurzgeschichten in Reimform, "das Publikum" machte gleich mit. Später engagierte der DJ einen Kollegen, der sich speziell um den Kontakt mit dem Publikum kümmerte und auf die Musik sprach– den MC. Das war der Beginn vom Rappen, wie wir es heute kennen.

Bei den Leuten kam das schnell an. Es war eine Ausdrucksform, zu der nicht viele Ressourcen nötig waren. Ein Ghetto-Blaster, eine Mix-Kassette, und los gings! Der erste kommerzielle Rap-Erfolg landete hierzulande 1979 die Sugarhill-Gang mit "Rappers Delight" (nach BLOKHUS und MOLDE 1996:430-6, DAVEYD/Internet, RANCK/Internet und GRAF und RICHENER 1997).

DJ

Rapper sind vollkommen abhängig von ihren DJs. Sie liefern den Sound, die Beats, die Basis für den Rap. Es waren die DJs, die zum grössten Teil die Rap-Musik schufen und auch zum Entstehen des Breakdances beitrugen. Sie beschafften Musik für spontane Strassenfeste. Notdürftig zusammen gebastelte Plattenspieler und Lautsprecher wurden an die Stromquellen der öffentlichen Strassenbeleuchtung angeschlossen. Die DJs kreierten eine Alternative zu Discos, die als teuer und versnobbt galten. Sie spielten Musik, die die Radiostationen nicht spielten, die "too black for the charts" war (so der damalige Ausdruck der Musikbranche).

Ihrer Bedeutung entsprechend stehen die DJs auch heute mitten auf der Bühne. Wir alle sehen sie, wie sie mit zwei Ohren zwei Klangquellen verbinden: das eine Ohr hört am Kopfhörer das Mix-Tape ab, das andere den Sound auf der Bühne. Manchmal bekommt die erhöhte Bühne mit den DJs den Charakter eines Altars. Da stehen die DJs, oft mehrere nebeneinander. Sie bestimmen mit ihrer Musikauswahl, welche Bewegungen die Leute machen. Die Leute tanzen nach ihrer Nadel – jedenfalls wenn sie ihre Stimmung treffen, eine hohe Kunst!

Die DJs haben sich grosse Fertigkeiten erworben, aus verschiedenen Titeln neue Stücke zu kreieren. Eine Kunst, die Grandmaster Flash (manche Quellen nennen auch Grand Wizard Theodore) entwickelte, ist das Scratchen. Er spielte – ähnlich wie Kool DJ Herc - dieselbe Platte auf zwei Plattenspielern und isolierte die Stelle, wo das Schlagzeug dominierte ("the break"). Diese wiederholte er ständig, indem er die eine Platte abspielte, während er die andere vorwärts und rückwärts rotieren liess. Diese Technik verleitete manche zu der Behauptung, Hip-Hop habe die DJs zu Musikern gemacht, die den Plattenspieler als Percussions-Instrument benutzen.

Hip-Hop trägt dazu bei, dass immer noch Schallplatten produziert werden. Ohne sie, könnte kein DJ scratchen – ein wichtiger Teil der Hip-Hop-Musik (BURNETT/Internet, Stancell 1966 in RANCK/Internet).

Graffiti

Was wohl die Sprüher machen? Ich gehe hinaus. Schon lange ist es dunkel, doch die Sprayer arbeiten munter weiter. Sie stehen auf langen Leitern, besprühen im Licht von Taschenlampen und extra aufgestellten Leuchten die Aussenwand des Sommercasinos. Jeder hat eine Zuschauerschar um sich versammelt. Wie bei jedem richtigen Jam sind auch hier alle vier Sparten des Hip-Hop versammelt.

Basel ist für seine Graffiti-Künstler bekannt. Nicht nur schweizweit – europaweit! Von weither kommen Leute, um die "Pieces" (so nennt man die grossen Bilder) an der Einfahrt zum Bahnhof SBB anzuschauen. So eine lange Aneinanderreihung von Graffiti-Werken gibt es sonst nirgendwo.

So berühmt, so berüchtigt sind sie in manchen Kreisen. Manche Leute fühlen sich gestört von "den Schmierereien an den Wänden". Sprüher haben es besonders schwer, gibt es doch nur wenige legale Flächen, sie müssen in der Illegalität arbeiten. Ihre Werke sind vergänglich, können schon morgen von Mitarbeitern der Stadt übermalt worden sein. Deshalb fotografieren die meisten Sprüher ihr Bild. Auf grösseren Jams gibt es Dia-Shows, wo ein Raum voller Leute sich mucksmäuschenstill die Bilder anschaut. Mehrere Magazine gibt es, die nur aus Graffitis, besonders auf Züge gesprühte, bestehen.

Die ersten Graffitis in der heutigen Form tauchten Ende der 60er-Jahre auf. Es fing an mit Tags. Das sind einfache Namenszüge, die junge Schwarze mit gewöhnlichen Filzstiften auf die Wände malten. Mitte der 70er-Jahre wurden die Styles immer ausgefeilter. Wichtig war die Entwicklung besserer Marker und Sprays, die haften blieben und auch dem Regen trotzten.

Einen Boom löste 1983 ein junger Briefträger namens Taki aus. Auf seinem Weg durch die Stadt hinterliess er an allen möglichen Stellen einen Tag. Kurze Zeit später wurde daraus eine Art Sport: Wer schafft es, an den unmöglichsten Orten ein Graffiti zu sprühen? Die Stadt New York reagierte mit mehreren Millionen Dollar teueren Anti-Graffiti-Kampagnen. Sie sah die Graffitis an als "Zeichen des Verfalls und des Verlustes der Kontrolle über die Stadt".

Parallel entstand das Pro-Graffiti-Business: Firmen erkannten das künstlerische Potential und nutzten es für Logos, Fassaden und T-Shirts (Burnett/Internet, ROSE 1994:46-47).

Das Publikum

Bald vier Uhr nachts, so langsam gehen die Ersten heimwärts. Die Mischung an Leuten, die an ein Hip-Hop-Jam kommen, kenne ich nicht von anderen Musikveranstaltungen. Besonders von ihrer Herkunft her. Herkunft? Sie bezieht sich nur auf ihre Vorfahren. Es sind ja die meisten Basler.

Da findet man alle Hautfarben von weiss, gelb, braun bis tief schwarz. Leute mit Vorfahren aus Südostasien, der Karibik, Afrika, Jugoslawien, Spanien und der Schweiz natürlich, auffallend sind die vielen gemischten Paare. Von der Kleidung unterscheiden sie sich wenig von einem gewöhnlichen Disco-Publikum. Die Männer sind in der Regel salopper gekleidet, die Frauen elegant. Anything goes. Die meisten sind so zwischen 16 und Anfang 20, kaum einer über 30.

Es ist schwierig zu generalisieren. Eins ist aber sicher. Sie sehen nicht so aus, wie sie sich viele Leute vorstellen oder die Modeindustrie es gerne hätte!


Kapitel 2: Hip-Hop und Ethnologie


“Anthropology – the study of humankind – has dealt mostly with men, increasingly with women, and to some degree with children and old people, but very little with youth.“ (Helena Wulff 1995:1)

Eine ethnologische Feldforschung über Hip-Hop? Für manche Kolleginnen und Kollegen tönte das widersprüchlich. Was hat denn Hip-Hop mit Ethnologie zu tun? Und wie kann man unter Hip-Hoppern Feldforschung betreiben?

Ethnologie hat sich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert als ein Fach entwickelt, das hauptsächlich “exotische Stämme“ studierte. Es gab zwei Gründe dafür, die beide kein gutes Licht auf das Fach werfen:

Neben dieser kulturhistorisch-dokumentarisch ausgerichteten Ethnologie existiert eine Ethnologie, die Phänomene der Gegenwart studiert, gerne auch in der “eigenen Gesellschaft“ (was “eigen“ ist und was nicht, ist relativ, siehe Kap.3 und 5). Sie ist im deutschsprachigen Raum weniger verbreitet, aber im Kommen.

In den 1920er-Jahren zum Beispiel untersuchte die Chicago-School die Folgen der raschen Verstädterung in den USA (siehe HANNERZ 1980). Eine der bekanntesten urbanethnologischen Arbeiten ist die Forschung von William Foote Whyte ("Street Corner Society" in einem italienischen Slum in den USA (WHYTE 1943). In letzter Zeit entstanden Studien über Punks in Norwegen (KROGSTAD 1986), arme Leute in Kairo (WIKAN 1996), über Drogendealer in New York (BOURGOIS 1995), Pub-Leben in Belfast (LUNDH 1994) und inzwischen gar über Internetnutzer in Chatrooms (MARKHAM 1998). Der Themenbereich ist unendlich. Selbst “Kreativität“ kann man ethnologisch untersuchen, z.B. in einem Kindergarten (VESTEL 1992).

Die schwammigste, dennoch vielleicht beste Grundregel hat Hans Christian Sörhaug aufgestellt: Zur Ethnologie “kann man mit allem möglichen kommen, solange es sich um Menschen handelt“ (NIELSEN 1996:68). Ethnologie ist das Studium vom Leben der Menschen auf der ganzen Welt – gerne aus der Perspektive von Individuen. In Vergleichen mit Verhältnissen in anderen Ecken der Welt stellt man Theorien “über das Menschsein“ auf: Wie sind wir? Warum sind wir so? Geht es auch anders?

Musik ist mehr als Sound...

Ich denke, mit dieser Definition von Ethnologie bekommt das Studium von Hip-Hop seine Berechtigung. Hip-Hop ist eine der am weitesten verbreiteten Ausdrucksformen junger Leute auf der ganzen Welt. Jugendliche auf Island fühlen sich zur Hip-Hop-Kultur hingezogen, genauso wie in der Dominikanischen Republik, in der Türkei, den USA und der Schweiz. Selbst in einem kleinen Bergdorf in den ukrainischen Karpaten entdeckte ich ein Graffiti. Sogar im Albanien der 80er-Jahre, als es noch hermetisch von der Aussenwelt abgeriegelt war, gab es eine lebhafte Breakdance-Szene, wie mir kürzlich Risa, ein aus dem Kosovo stammender Breakdancer, erzählte. Tricia Rose, Autorin eines der wenigen wissenschaftlichen Hip-Hop-Bücher, meint, Hip-Hop sei “das zentrale Ausdrucksmittel, mit dem sich junge Leute mit ihrer Gesellschaft auseinander setzen“ (ROSE 1994:20).

“Sag mir, welche Musik du hörst (oder machst), und ich sage dir, wer du bist.“ Musik ist mehr als Sound oder Unterhaltung. Für Leute zwischen 12 und 25 ist es mit Sport das, wofür sie sich am meisten interessieren. Die Musik, die man hört, hängt mit der eigenen Persönlichkeit zusammen, mit der persönlichen Geschichte, der Position in der Gesellschaft. Musik ist wie jede andere künstlerische Ausdrucksform ein Zeichen der jeweiligen Zeit.

Ebenso haben bestimmte gesellschaftliche Gruppen ihre eigene Musik. Um Musik oder bestimmte Musiker herum sammelt sich eine Fan-Schar, eine Szene entsteht. Musik wird Teil einer Weltanschauung. Man denke an die 68er-Hippies und Woodstock-Generation oder die Punks. Musik hat etwas mit Gesellschaftsklasse zu tun. Intellektuelle legen zum Sonntags-Brunch Jazz und nicht Heavy-Rock auf, zu Country-Musik-Konzerten kommen eher Leute aus den unteren, zu Konzerten mit klassischer Musik Leute aus den oberen Schichten.

Musik kann vereinen und trennen. Sie kann Massen mobilisieren, wenn sie zu Konzerten Leute mehrere hundert Kilometer anreisen lässt oder Aktionen wie “Live Aid“ gegen den Hunger in Afrika starten. Sie kann Distanz zwischen Leuten herstellen mit verschiedenem Geschmack im Sinne von “Mit Leuten, die die Backstreet Boys hören, will ich nichts zu tun haben“ oder wenn es darum geht, abends gemeinsam weg zu gehen (“Ich mag aber keine klassische Musik“ / “Nein, in der Disco kommt nur bescheuerte Musik“). Helena Helve (1993:92) fand in ihrer Untersuchung über Jugendliche in Helsinki heraus, dass Musik ein sehr trennender Faktor unter jungen Leuten ist.

Musik ist auch Erinnerung. Jeder hat ein, zwei drei Lieder, mit denen er zentrale Situationen in seinem Leben in Verbindung bringt. Kürzlich war ich zu Besuch bei einem 35 Jahre alten Kollegen. Er spielte mir fast den ganzen Abend nur einen Titel von Donovan vor. Aus Nostalgie! Der Titel erinnerte ihn daran, wie er in Lugano Haschisch rauchend im Park lag, erklärte er mir.

Musik hören wir, um uns zu entspannen, abzuregen, besser lernen zu können, uns zu berauschen, zu tanzen und zu flirten oder einfach nur, um sie zu geniessen. Sklaven sangen, um die Arbeit erträglicher zu machen, Rentierjäger, um sich wachzuhalten. Musik gibt es in den unterschiedlichsten Formen auf der ganzen Welt. Musik ist etwas Universelles, ein menschlicher Ausdruck, den man unabhängig von Herkunft verstehen kann, wenn man will. Nichts zeigt das besser als die Popularität von World-Music. Man muss nicht Samisch oder Portugiesisch können, um bei der Musik von Mari Boine oder Cesaria Evora ergriffen zu werden. Musik ist die universelle Sprache der Menschheit.

...doch wo bleibt die Wissenschaft?

Das wissenschaftliche Interesse an Populär- oder Volksmusik (Pop, Rock, Jazz, Blues, Volkslieder) ist in der Vergangenheit gering gewesen. In letzter Zeit ist es jedoch etwas gewachsen. Das Desinteresse hat meine Arbeit erschwert. Das einzige Werk über die Geschichte der Populärmusik entdeckte ich beim Stöbern in Norwegen. Selbst im Stammland dieser Musik, in England, konnte ich keines auftreiben. In ihrem Vorwort schreiben die Autoren Yngve Blokhus und Audun Molde: “Es gab kein Buch mit einer ganzheitlichen Darstellung von der Geschichte der Populärmusik. Diese erstaunliche Tatsache gab uns die Inspiration, mit der Arbeit an diesem Buch zu starten“ (BLOKHUS und MOLDE 1996:5).

Im ersten Kapitel liefern sie mögliche Gründe dieses Desinteresses. Die Gelehrten unterschieden schon lange zwischen Volksmusik und Kunstmusik. Volksmusik hören die meisten Leute, Kunstmusik die kulturelle Elite. Kunstmusik wurde ökonomisch vom Adel, der Oberklasse oder der Kirche unterstützt, heute tut dies die öffentliche Hand – ökonomisch und ideologisch. Kunstmusik hat den Status bekommen, etwas Hochwertiges zu sein. Etwas, das den Geist und Intellekt anspricht und das mit Respekt und in Andacht angehört werden soll. Kunstmusik ist zeitlos. Volksmusik dagegen ist nur zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib da. Damit sie jeder versteht, ist sie einfach und oberflächlich. Sie hat keinen Anspruch auf Zeitlosigkeit, denn sie wechselt mit Moden und Trends.

In der westlichen Welt, schreiben sie, seien zudem Werte wie Unterhaltung, Gemeinschaft, kreative Lebenslust und Relaxen traditionell als weniger hochwertig angesehen worden wie geistige oder intellektuelle Beschäftigungen. Populärmusik wurde von der Gesellschafts- und Kulturelite deshalb häufig als platt, unmoralisch und gefährlich dargestellt (BLOKHUS und MOLDE 1996:19-20).

Hip-Hop ist da keine Ausnahme. In den Medien ist Hip-Hop oft mit Gewalt in Verbindung gebracht worden, mit jungen randalierenden Ausländern, die ihren Frust abreagieren wollen mit dem Vorbild der Bronx in New York. In der wissenschaftlichen Literatur werden diese Klischees teilweise wiederholt. Viele Studien gibt es nicht, die meisten sind in den vergangenen fünf Jahren herausbekommen. “Eine wissenschaftliche Debatte über Hip-Hop existiert nicht“, schreibt Dietmar Hüser, Historiker an der Uni Saarbrücken in einem Aufsatz über Rap in Frankreich (Link zum Artikel).

Interessanterweise ist das Thema bei amerikanischen Studenten arg im Kommen. Im Internet habe ich unzählige Anfragen von Studenten an Schwarzen Blättern entdeckt im Stil von “Ich schreibe gerade eine Arbeit über Hip-Hop. Wer weiss etwas über die Geschichte des Hip-Hop?“ Dort sind auch schon einige Dissertationen darüber geschrieben worden (für eine gute Bibliografie siehe die Seiten des Simmons College).

Tricia Rose gibt in “Black Noise: Rap Music and Black Culture in Contemporary America“ (1994) einen guten Überblick über die Entwicklung des Hip-Hop und stellt es in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang (Rassismus in den USA, Stadtplanung zu Lasten der Armen). Sie diskutiert die Gegensätzlichkeiten (z.B. Gangster- visa Bildungs-Rap), die Rolle der Medien, die Kommerzialisierung genauso wie Sexismus und Macho-Tum. Ein Kapitel hat sie allein Rap-Texten gewidmet. Basiswissen, vor allem über Rap-Musiker, vermittelt David Toop (1984 und 1994).

Das meiner Meinung nach schönste Buch hat US-Rapper KRS-ONE (1996) geschrieben. “The Science of Rap“ heisst es und ist eine Art Einführungsbuch für junge Rapperinnen und Rapper. Filosofische Betrachtungen darüber, was es heisst, ein guter Rapper zu sein, wechseln sich ab mit konkreten Tips und Einblicken in die Hip-Hop-Geschichte.

Das reichhaltigste Angebot an Informationen liefert das Internet. Dort habe ich auch die einzige ethnologische Untersuchung entdeckt - auf der Homepage eines sudanesischen Studenten in Jyväskylä/Finnland. Im Internet gibt es Info-Seiten über Hip-Hop, Politik und Geschichte (z.B. Seite von DaveyD), Infos über Szenen in der ganzen Welt, Graffiti-Gallerien, Lyrix-Archive usw, Foren), immer mehr (UPDATE 2002) Schweizer Seiten wie undergroundhiphop.ch (sie auch eine Schweizer Linkliste). Die Seiten und Adressen können schnell ändern, am besten testet man Suchmaschinen wie Google, Yahoo, Web.de oder Search.ch mit den Begriffen “Hip-Hop“, “Graffiti“ und so weiter aus. Mit ihnen bekommt man auch Adressen von Hip-Hop-Diskussionsgruppen. Mehr als genug Material für künftige Forschungen!

In Basel sind drei Arbeiten über Hip-Hop in Basel geschrieben worden – alle als Diplomarbeiten an der höheren Fachhochschule für Sozialarbeit.

Michael Fischli (1994) führte Interviews zum Thema: Ist Hip-Hop ein Ersatz für fehlende Geborgenheit im Elternhaus? Michael Frings (1997) Arbeit ist allgemeiner und offener, soll einen Überblick verschaffen. Die Interviewpartner in beiden Arbeiten stammen jedoch aus Jugendheimen und Arbeit-Erziehungsanstalten, in denen die Studenten ein Praktikum abgeleistet hatten – sind also wenig repräsentativ. Jacquelin Graf (1997) liefert eine historische Analyse. Sie betrachtet Hip-Hop als “Bewältigungsstrategie“, die es ermöglicht, mit schwierigen Lebensumständen zurecht zu kommen.

Die unsichtbare Jugend

Dass Hip-Hop noch kein Thema ist in der Ethnologie, verwundert mich nicht, sind junge Leute sowieso in den meisten Studien unsichtbar. Wenn sie vorkommen, dann meist als Menschen im Übergang vom Kind- zum Erwachsenensein (“auf der Suche nach seiner/ihrer Identität“) und nicht als Individuen, die ihr eigenes Ding machen.

Das hängt von der ethnologischen Wahrnehmung von Jugend zusammen. Jugendlichkeit wird meist negativ definiert: als vorübergehender Zustand, als “Suchen nach einer Identität“. Ziel der Entwicklung ist das Erwachsenensein, “der Krönung der Schöpfung“. Die Folge: Jugendliche werden nicht ernst genommen.

Ein Problem, besonders der älteren Ethnologie, ist Kulturfixiertheit. Das Interesse war auf Kultur einer Gruppe (“die Sioux-Indianer“) fixiert, und unter Kultur verstand man in erster Linie Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Und alle Mitglieder einer Gesellschaft “hätten“ dieselbe Kultur. In dieser Sichtweise sind junge Leute lediglich dazu da, das Erbe ihrer Grossväter weiterzuführen. Ältere Ethnologen wandten sich in ihrer Suche nach Daten hauptsächlich an alte Männer.

Im Vorwort zum Reader “Youth Cultures. A cross-cultural perspective“ kritisiert Helena Wulff die passive Rolle der Ethnologie in der Jugendforschung. Seit dem Beginn von Jugendkultur-Forschung in den 1950er-Jahren stammten die meisten Forschungen von Soziologen. Das sei immer noch der Fall. Sie kritisiert die Voreingenommenheit der Forschenden: Sie betrachteten jugendliche Aktivitäten stets als Protest gegenüber der Erwachsenwelt. Sie behandeln Jugendliche von vornherein als Abweichler, als Delinquenten.

Viele Studien, so Wulff weiter, seien zudem gemacht worden, um “Jugendprobleme“ aus der Sicht von Erwachsenen zu lösen. Ein Problem vieler Studien sei der Abstand zwischen Forschenden und den Jugendlichen - nicht nur den Lebensstil betreffend, sondern auch vom Alter her (WULFF 1995:2-8). “Bis heute bilden die Erwachsenen die Perspektive, unter denen andere Kulturen untersucht werden“, stellen auch Marie-José van de Loo und Margarete Reinhart in ihre Einleitung zum Reader über Kinder in der Ethnologie fest.

Was sie über Kinder schreiben, lässt sich meiner Meinung nach gut auf Jugendliche in der Ethnologie übertragen: Sie “werden behandelt, sie handeln nicht selbst, sie werden nur beobachtet und selten befragt, es wird über sie geredet, sie reden nicht selbst, und man bemüht sich nicht, die ihnen eigenen Ausdrucksformen zu verstehen“ (van de LOO und REINHART 1993:7-8).

Erwachsenenzentriertheit

Diese Erwachsenenzentrierheit ist in vielen Artikeln im “Kursbuch Jugendkultur“ (1997) spürbar, besonders bei deutschsprachigen Autoren. Dabei wollten die Herausgeber vom SpoKK (Arbeitsgruppe für symbolische Politik, Kultur und Kommunikation) gerade dem entgegenwirken. Weit mehr als 30 Autoren schreiben über Skinheads, Punks, Hip-Hopper, über Jugendkultur und Weiblichkeit, Hooligans, Boygroups und ihre Fans oder die erste Cybergeneration.

Das Buch ist nützlich für ältere Erwachsene, um einen Überblick zu bekommen (“Na, womit beschäftigt sich denn unsere Jugend von heute so?“), den Alltag von Jugendlichen bringt es einem kaum näher. Nur selten kommen junge Leute selber zu Wort und nur selten setzt sich ein Forscher dem jugendlichen Leben so aus wie Andre Lützen, der zwei Graffiti-Künstler begleitete, während sie beim Fahren einen Zug besprühten oder Monja Messner, die Mädchen mit in Boygroup-Konzerten hinein begleitete.

Viele dieser Texte, merkte ich schnell, richten sich ausschliesslich an ein spezialisiertes Publikum in der Wissenschaft. Ihre Informationen bezogen sie zum grossen Teil aus zweiter Hand, hauptsächlich von anderen Autoren. Oft sind ihre Schlüsse nicht nachvollziehbar, da sie ihren Forschungs- und Denkprozess nicht offenlegen. Gelegentlich musste ich laut auflachen, so ungewollt komisch waren manche Formulierungen, die die Gelehrten, in ihrem Lehnstuhl sitzend (so wirkte es jedenfalls auf mich), über die Jugend von sich gaben. Ein Beispiel: Ralf Vollbrecht zitiert den Soziologen Hitzler zum Thema Schaffung von Lebensstilen. Es gilt,

Oft werden Phänomene der Jugendkultur anhand von Theorien erklärt. Wie einseitig und voraussehbar die Ergebnisse so werden, wird immer wieder im Kursbuch deutlich. Anne Krogstad (1986) heimste diese Herangehensweise bei den Punks in Oslo, die sie für ihre Lizenziatsarbeit in Ethnologie untersucht hatte, viel Kritik bei den Punks ein. Sie benutzte eine sogenannte Symboltheorie. Die Punks fanden die Theorie ungeeignet, sie habe der Forscherin den Blick auf wichtigere Dinge verstellt. “Spannend aussehende Menschen sind immer medien- und symboltheoriefreundlich. Das ist Exotisierung pur“ (LILLEVOLDEN 1988).

Es geht auch anders

In dem englischen Reader zeigt Helena Wulff, wie spannend Jugendforschung sein kann. Da gibt es Forschungsberichte über Themen wie multikulturelle Freundschaften, über Rai-Musik und Jugend in Algerien und über junge Männer aus Surinam in Amsterdam. All diesen Studien ist gemein, dass sie junge Leute als selbständig handelnde Menschen ansehen. Sie nehmen sie ernst. (Eigene) Empirie steht mindestens gleichberechtigt neben (fremder) Theorie, kein Artikel kommt ohne Zitate von jungen Leuten aus.

Anregend fand ich ferner die Lektüre von Arild Hovlands (1996) Forschung unter jungen Samen in Nordnorwegen, die auf 15-monatiger Feldforschung baut. Er nahm regelmässig an Sitzungen eines neuen samischen Jugendvereins teil, an Konferenzen, besuchte den Freizeitklub, las Schulaufsätze und Leserbriefe. Das Buch statte er reich mit Zitaten aus. Er präsentierte eine Lebenswelt, die in anderen Büchern über Samen oft vernachlässigt wurde.

Ein aussergewöhnliches Buch über eine türkische Jugendbande in Frankfurt am Main hat Herman Tertilt (1996) geschrieben. Über zwei Jahre lang begleitete er die Jugendlichen in ihrem Alltag. Nach der Kontaktaufnahme in einem Jugendhaus verbrachte er fast jeden Nachmittag und Abend mit den “Turkish Power Boys“ und besuchte sie sogar während ihres Urlaubs in der Türkei. Es gelang ihm, eine Vertrauensbasis aufzubauen, seine extra dafür erworbenen Türkisch-Kenntnisse waren von Vorteil. Er wurde zum Freund, dem die Jugendlichen auch um Rat und Hilfe bitten konnten. Grossen Raum räumt er den Portraits dreier Bandenmitglieder ein.

Diese Forscher benutzten die ethnologische Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung. Diese werde ich im nächsten Kapitel erklären.


Kapitel 3: Forschen. Als Ethnologe unter Hip-Hoppern


"Man sollte nicht über Breakdance reden, sondern es selber tun. Das Gefühl ist einfach unbeschreiblich" (Nicole Schwarz)

26. März 1998. "Sechs Stutz und mach die Tür hinter Dir zu." Meine Feldforschung hat begonnen. Mit diesen Worten. "Welch Begrüssung", dachte ich. Und wie cool sie da an der Kasse im Sommercasino sitzen. Ich musste an Leute in New York denken. Ja, so übercool sind da die Typen, die U-Bahn-Tickets verkaufen, auch gewesen. Die Drei bekamen ihre sechs Stutz, und ich betrat nun zum ersten Mal in meinem Leben eine Hip-Hop-Disco.

Ich hatte nie zuvor bewusst Hip-Hop-Musik gehört, im Radio klar, immer wieder mal, aber nur als Background. Ein bisschen komisch kam ich mir schon vor. Ich dachte, ich würde garantiert auffallen, ich mit meinen 28 Jahren – unter womöglich lauter Teenies? Ja, und überhaupt meine Klamotten... Ausserdem komme ich allein, ich kenne niemanden, und niemand kennt mich dort. Jetzt, 20 Monate danach, traue ich es kaum zu schreiben, aber ich hatte da doch einige der Vorurteile über Hip-Hop verinnerlicht und glaubte, diesen Abend nicht unter den friedlichsten und bravsten Jugendlichen der Stadt zu verbringen.

Ich war neugierig, was mich da erwarten würde. Ich hatte im Herbst 1997 ein Theaterstück gesehen über Hip-Hop, gespielt von Hip-Hoppern, das mir sehr gefallen hatte (GleisX). Dadurch kam ich auf die Idee, meine Feldforschung über Hip-Hop zu machen. Die Aktiven in der Hip-Hop-Vereinigung Bee 4 Real (B4R) wollten mit dem Stück Vorurteile gegenüber Hip-Hop abbauen. Daraus meinte ich ein Interesse abzuleiten, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich dem Dialog mit der Öffentlichkeit zu stellen.

Zu der Zeit besuchte ich ein Seminar über ethnologische Stadtforschung. Wir kamen zum Schluss, dass es an Studien über Lebensformen junger Leute fehlt. So why not study hip-hop?

An dieser Veranstaltung wollte ich einen ersten Einblick in die Szene bekommen. Ich hatte mich zuvor mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der sehr viel Hip-Hop hört (Hard Core), unterhalten. Er meinte, ich solle schauen, was für Musik kommt, "echter Hip-Hop" oder nur "Hitparadenzeug". Ich soll darauf achten, wie die Leute gekleidet seien – sind es nur Mode-Hip-Hopper? Sind es nur Teenis, hat es Ältere unter ihnen? Ich hoffte auch, Kontakte mit Leuten aus der Szene aufnehmen zu können.

Teilnehmende Beobachtung

Ich setze mich zu den anderen auf die Bühnenkante. Hm, dachte ich, eigentlich sieht es hier aus wie in einer gewöhnlichen Disco. Ein paar Leute tanzen, ein Paar eng umschlungen. Die meisten sind so zwischen 16 und knapp über 20, Frauen sind untervertreten. Vom Aussehen her falle ich gar nicht auf. Wohl die richtigen Hip-Hopper, die sich hier treffen, denke ich, mein Bruder würde zufrieden sein. Merkt man auch an der Musik: das ist kein kommerzielles Gedudel!

Ja, nun bin ich also auf Feldforschung. Wie aufregend!? Hier sitze ich und schaue. Immer wieder war Feldforschung Thema im Studium, doch erst "im Feld" wird einem bewusst, was das ist und was die Methode von einem fordert.

Anders als Soziologen und Psychologen begnügen sich Ethnologen nicht damit, Umfragen zu machen. Ethnologen nehmen am Alltag der Leute teil, die sie studieren. Studieren? Ein Ethnologe namens Spradley sagte einmal, Ethnologen würden nicht Leute studieren, sondern von ihnen lernen. "Teilnehmende Beobachtung" heisst die Methode. Franz Boas und Bronislaw Malinowski führten sie in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein. Boas lebte mehrere Jahre zusammen mit den Indianern Nordamerikas, Malinowski mit den Einheimischen auf der Südseeinsel Trobriand, bevor sie Bücher über sie veröffentlichten.

Die Methode ist überall anwendbar, ob in der "Dritten Welt" oder zur Untersuchung des Betriebsklimas eines Unternehmens hierzulande - deswegen sind heutzutage Ethnologen auch im Consulting-Bereich angestellt. Ihre Spezialität ist es, sich in andere hinein zu versetzen – "to grasp the native‚s point of view", wie es Malinowski (1922) ausdrückte. "Eine gute Feldarbeit ist davon abhängig", so mein Lehrbuch, "dass wir unser Äusserstes versuchen, einzutauchen, dass wir uns gefühlsmässig, voll und ganz in die Welt, die wir studieren, engagieren" (NIELSEN 1996:10).

Über Hip-Hop zu forschen, ohne Hip-Hop-Musik gehört zu haben, Breakdancern zugeschaut und Graffitis bewundert zu haben, ist also in der Ethnologie nicht akzeptabel. Idealerweise sollte man Teil der Gesellschaft, der Szene, werden. Maurice Bloch forderte, man sollte die Arbeit der Leute, über die man forscht, erlernen (nach NIELSEN 1996:51). In meinem Fall hiesse es, mich in einer der vier Hip-Hop-Sparten zu versuchen, aktiv zu werden! Erst dann könne ich lernen, was Hip-Hop ist und für die Leute bedeutet.

Dahinter steckt die Überzeugung, dass viele Informationen nicht oder nur ungenügend via Sprache vermittelt werden können. Manches muss am eigenen Leib erlebt werden. Viele Hip-Hopper würden darin zustimmen. Wie unbefriedigend sind doch die Antworten, fragt man einen Bekannten, wie seine Bergtour in Marokko war oder was nun das Tolle an der Wu-Tang-Clan-CD sei! "Man sollte nicht über Breakdance reden, sondern es selber tun. Das Gefühl ist einfach unbeschreiblich", sagte mir Nicole Schwarz und bringt das Problem auf den Punkt.

Als Ethnologe sollte man deshalb ständig präsent sein. Mein Lehrbuch:

Keine geringen Ansprüche! Ich sitze hier am Bühnenrand, ziemlich ratlos und frage mich: Wie soll ich überhaupt an die Hip-Hopper herankommen? Soll ich jemanden ansprechen und fragen, also ich bin Ethnologe und möchte gerne wissen....? Wie reagieren die überhaupt da drauf? Wen soll ich überhaupt ansprechen? Welche Fragen soll ich stellen? Soll ich einfach nur beobachten und schauen, ob etwas passiert? (Es passierte nichts.)

Ich wurde mir schnell der Herausforderung bewusst. Ich studiere eine Szene und nicht ein Dorf, eine Stadt, eine ganze Gesellschaft oder einen Brauch. Und ich bin ein Outsider.

Wie als Outsider eine Szene studieren?

Eine Szene ist weniger leicht fassbar als ein Dorf. Wer überhaupt ein Hip-Hopper ist, erfährt man nicht aus dem Telefonbuch. In der Stadt erkennt man sie nicht am Aussehen. Hip-Hopper sind lose organisiert: Wann sich Breaker zum Tanzen treffen oder Sprüher ihre nächsten Aktionen in der Bahnhofseinfahrt planen, steht nicht in der Zeitung.

Am deutlichsten bewusst wurde mir der Unterschied im Sommer 1998, als ich im Rahmen meines MGU (Mensch-Gesellschaft-Umwelt) – Studiums mit Kollegen auf Feldforschung in einem ukrainischen Bergdorf ging. Das Thema: Was halten die Einheimischen von Touristen aus dem Westen?

Die Vorgehensweise war einfach: Hier ist das Dorf, dort in den Häusern wohnen sie, da laufen die Leute, die uns interessieren. Fremde fallen auf. Man kommt zwanglos ins Gespräch, beim Spazieren gehen, wenn man sich in eine Beiz hockt und mit den Einheimischen die Fussball-WM anschaut, wenn man den Markt besucht oder in die Disco geht. Schon nach zwei Wochen im Feld hatten wir eine Menge Daten beisammen (siehe BREER, KHAZALEH und STEG 1999).

Ich ging regelmässig auf Hip-Hop-Veranstaltungen, doch nach Wochen ohne Zufallskontakte fragte ich mich: Ist im meinem Fall einfach eine andere Art von Feldforschung angebracht? In den 21 Tagen im Feld, die für eine Feldforschungs-Übung ausreichen sollen (bei mir wurden es 30 verteilt auf ein Jahr, nicht mitgerechnet Treffen zum Autorisieren der Interviews), lassen sich die hehren Ideale nicht verwirklichen – vor allem, wenn man fremd im Milieu ist.

Die Rolle als (harmloser) Idiot

Mein Status als Outsider stellte mich vor praktische und ethische Probleme. Als Outsider hat man von nichts eine Ahnung und stellt sich tolpatschig an – keine gute Grundlage, will man als Gesprächspartner ernst genommen werden. Am schwierigsten war freilich der Anfang. Ich hatte keine Ahnung von Hip-Hop, war gut zehn Jahre älter als sie, führte ein ganz anderes Leben. Ich wusste, wie wichtig Vorwissen ist und wollte mich informieren. Das war sehr schwierig, gibt es doch keine Bücher oder Zeitschriften über Hip-Hop in Basel. Ich wusste nicht, wie ein natürliches Gespräch zu führen, die Kluft war zu gross.

Mit dem Eindruck kehrte ich von einem Gespräch mit Mitgliedern der damals noch existierenden Hip-Hop-Vereinigung Bee4Real zurück. Den Kontakt mit ihnen bekam ich durch DJ El-Q, den ich nach der Hip-Hop-Disco angesprochen hatte. Wie in der Ethnologie üblich, führte ich während der ein "Feld-Tagebuch".

Obwohl mitten in der Stadt, in der ich schon seit fast sieben Jahren lebe, fühlte ich mich ähnlich wie meine Studienkollegen, die zur Feldforschung in Ghana waren. Ich war in einem Milieu, wo ich mich vollkommen fremd vorkam – oder wie Nigel Barley (1986) während seiner Forschung in Kamerun - wie ein "harmloser Idiot".

Die Rolle als Eindringling

Die ethischen Probleme betrafen meine Rolle als Forscher: Inwiefern bin ich berechtigt, als Aussenstehender über Hip-Hop zu forschen? Sollte das nicht jemand aus der Szene tun oder zumindest jemand, der sich auskennt? Diese Frage beschäftigte mich während meiner ganzen Forschung. Seit den 70er- und 80er-Jahren ist sie eine der meist diskutierten im Fach.

Lange Zeit hinterfragten Ethnologen ihre Forschungspraxis nicht - also in einen fernen Winkel der Welt zu den "Wilden" (wie man sie damals bezeichnete) zu reisen, eine Zeit lang bei ihnen zu leben und dann Bücher und Artikel über ihre merkwürdige Sitten und Bräuche zu schreiben, um damit Karriere zu machen - je kurioser, desto besser!). Die Ethnologen hatten damals nichts zu befürchten. Sie schrieben nur für intellektuelle Weisse. Heute können die Nachkommen dieser "Wilden" lesen und schreiben, besuchen selbst die Universität. Sie lesen, was Ethnologen über sie schreiben. Sie nehmen nicht mehr hin, nur von anderen beschrieben zu werden – als exotische "Andere".

Lila Abu-Lughod bemerkt:

Sie möchten das Aussehen des Bildes mitbestimmen, das andere von ihnen bekommen. Sie protestieren, wenn sie merken, dass ein ethnologisches Filmteam aus der Hauptstadt in ihrem Portrait über ein samisches Dorf in Nordfinnland nur alte schäbige Häuser aufnimmt. Plötzlich gerieten Ethnologen unter Druck, und Forschungsethik und –praxis wurden Thema zahlreicher Publikationen (u.a. CRICK 1982, CLIFFORD & MARCUS 1986).

Viele Gesellschaften, die regelmässig Besuch von Ethnologen bekommen haben (Indianer, Samen, Gesellschaften in Papua Neu-Guinea etc) reagieren heute zurückhaltend gegenüber auswärtigen Forschenden. In manchen Regionen, wie in Skandinavien, haben die Nachkommen der "Wilden" ein Forschungsmonopol über ihre eigene Gesellschaft ergattert. In Norwegen ist es fast tabu, als Nicht-Same über Sami zu forschen und man muss, wie ich mitbekam, mit Schwierigkeiten rechnen, versucht man es dennoch. Ihre kritischen Fragen: Kann sich ein Fremder jemals so viel Wissen über die Gesellschaft aneignen wie ein Einheimischer? Kann er sie jemals richtig verstehen? Ist es nicht störend, ständig einen fremden Forscher um sich herum zu haben?

Diese Entwicklung brachte viele Annahmen in der Ethnologie durcheinander. Bisher hatte man es als Stärke, ja, als Voraussetzung ethnologischen Forschens angesehen, von aussen in eine fremde Gesellschaft zu kommen. Entsprechend reagierten die etablierten Ethnologen und fragten genauso kritisch zurück: Kann ein Einheimischer wirklich genauso "objektiv" forschen wie ein Fremder? Nimmt ein Einheimischer nicht vieles einfach hin, ist ihm vieles selbstverständlich, das ein Fremder hinterfragen würde? Wie gross ist die Gefahr, dass es einem Einheimischen um positive Selbstdarstellung nach aussen geht ("mein Dorf", "mein Stamm", "meine Szene")?

Unnötige Bedenken

Beide Arten von Forschungen haben ihre Vor- und Nachteile. Wichtiger: Die Begriffe "einheimisch" und "fremd" sind relativ. Ich war beides: einheimisch (in der Stadt) und fremd (in der Szene). Und das Verhältnis kann sich ändern. Jede Feldforschung verändert den Forscher. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich, als ich ein Konzert besuchte mit einer afrikanischen Percussion-Gruppe. Es fand statt im Nellie Nashorn in Lörrach, das Alternative in den 70er-Jahren errichteten. Viele Leute in meinem Alter gehen dahin. Danach besuchte ich einen Hip-Hop-Jam.

Das Wichtigste: Die Hip-Hop-Künstler waren zu meiner Überraschung alle bereit, mitzumachen - obwohl sie merkten, wie wenig ich wusste und ich von der Uni war. Es bedurfte keiner Überredungskunst! Sie erzählten gerne von sich, liessen mich gratis Jams besuchen, schenkten mir eine CD oder Platte, verschafften mir Kontakte.

Meine Erfahrung deckt sich mit der Beschreibung im Lehrbuch:

Wichtiger als diese Frage sind wahrscheinlich der ideologische Background und die Interessen des Forschers. Finn Sivert Nielsen macht einen Vergleich mit der Kunst.

Man denke sich die Szene, vier Maler sitzen auf einem Berggipfel und sollen das Tal und die Berge um sie herum malen. Die vier Gemälde, schreibt er, sind alle gleich "wahr", die Künstler betonen nur unterschiedliche Aspekte in dem, was sie sehen, sie wählen aus, was für sie wichtig ist, seien es Farben, Konturen, Kontraste, Details, Perspektiven. Alle Bilder sind "wahr", aber keines ist "identisch" mit der Landschaft" (NIELSEN 1996:60).

Eines ist sicher: Über "Sie" zu schreiben, wenn man weiss, dass "Sie" die Arbeit lesen ist anspruchsvoller. Hätte ich den Hip-Hop-Künstlerinnen und –Künstlern nicht ein Exemplar dieser Arbeit versprochen, würde sie innerhalb der Mauern der Uni bleiben, ich hätte weniger an manch einer Formulierung gegrübelt.

Themenwahl und Interesse

Jede Forschung hat ein Thema und innerhalb dieses Themas einen Schwerpunkt. "Die Situation der Hip-Hop-Szene in Basel" ist noch zu allgemein. Möglich wäre: "Die Internationalität der Szene: Wie klappt das Miteinander von Schweizern und Ausländern?" oder "Die Stellung der Frauen im Hip-Hop".

Ich habe mein Thema von Anfang an offen gehalten. Ich wollte die Hip-Hop-Künstler selbst bestimmen lassen, darüber zu reden, was sie wollen. Dies ist auch ein Merkmal von Ethnologie. Während Soziologen, Pädagogen oder Psychologen in der Regel mit fertigen Fragen an die Jugendlichen herantreten, gehen viele Ethnologen erst mal ins Feld, um herauszubekommen, was die wichtigen Fragen sind.

Mein Oberthema war die Situation der Jugendlichen in der Stadt Basel. Die Leitfrage war: Wie können sich junge Leute hier verwirklichen? Welche Chancen, welche Hindernisse gibt es? Mein Ziel war, Hip-Hop jenseits oft gehörter Vorurteile zu untersuchen: Was geht in der Szene ab? Was sind da überhaupt für Leute? Stimmt das, was man in der wissenschaftlichen Literatur über sie liest? Welche neuen Gesellschaftsmodelle entwerfen sie: welche Bedeutung haben Nationalität, Schicht und Geschlecht? Was für Themen bewegen sie?

Das Hip-Hop-Milieu hat meist schlechte Schlagzeilen gemacht (Gewalt, illegales Sprühen). Jugendliche werden in Medien als passiv, verantwortungs- und visionslos dargestellt. Hier ist eine Szene, dachte ich mir, in der es vor Kreativität nur so sprudelt, in der Dinge passieren, von denen die wenigsten wissen. Das wollte ich in meiner Arbeit darstellen.

Das Vorgehen

Doch wie komme ich an die Daten? Meine Pläne musste ich immer wieder ändern. Zuerst wollte ich anhand der Geschichte und laufender Aktivitäten einer Hip-Hop-Vereinigung (Bee 4 Real) die Merkmale der Basler Hip-Hop-Szene herausarbeiten. Die Idee dazu lieferte mir die Forschung von Arild Hovland (1995) unter samischen Jugendlichen. Er ging an die Treffen einer Jugendgruppe, besuchte ihre Veranstaltungen, knüpfte Kontakte und konnte so an einem Teil ihres Alltags teilnehmen.

Ich bekam sofort das Einverständnis der Mitglieder, an einer B4R-Sitzung teilzunehmen. Mein Enthusiasmus sollte nicht lange währen. Das Treffen wurde eine Krisensitzung, zwei Monate später war der Verein aufgelöst. Wat nu?

Ich beschloss, zweischienig zu arbeiten: Ich würde weiterhin jede Art von Hip-Hop-Veranstaltungen besuchen. Parallel dazu wollte ich Interviews mit Hip-Hop-Künstlern führen. An dem B4R-Treffen hatte ich Black Tiger kennen gelernt, er war sofort bereit, mir Kontakt zu zentralen Leuten im Hip-Hop-Milieu zu verschaffen. Ihm musste ich das Konzept der ethnologischen Feldarbeit nicht lange erklären, hat er doch selber zwei Jahre Psychologie und drei Jahre Soziologie studiert. Anfangs wollte ich von jeder Sparte einen Künstler nehmen, eine Frau sollte dabei sein.

Mitten in der Feldforschung erzählte ich einer Ex-Breakerin von meiner Auswahl. Sie sagte: "Wenn du das nur für die Uni machst, ist das so okay, wenn es auch für uns machst, dann musst du noch (...) interviewen." Ihre Aussage gab mir zu denken. Die Folge: Aus vier sind elf Interviews geworden. Und immer noch gibt es viele wichtige Leute, die aussen vor bleiben mussten. Ich fand es sinnvoller, Insidern die Auswahl zu überlassen, als auf Geratewohl Leute auf einem Jam anzusprechen.

Was Kontakte anging, war von grosser Bedeutung der Jugendtreffpunkt Gundeli. Dort hatte ich einmal mit Breakdancerin Mickey Laze abgemacht. Sie machte mir deutlich, wie wichtig der Treff für die Basler Hip-Hop-Kultur ist. Die meisten Hip-Hop-Künstler sind dort quasi aufgewachsen. Tatsächlich geben sich hier die Stars die Klinke in die Hand. Dort traf ich auch auf Sozialarbeiter Antonio Gabl, der mir von der unsicheren Zukunft des Treffs erzählte. Ihr Grundstück liege auf einer Zufahrtsstrasse für den neu gestalteten Bahnhof SBB. Daraus entstand ein Artikel für die Basellandschaftliche Zeitung.

Nebenbei besuchte ich ein Hip-Hop-Festival in Zürich (Urban Skillz 1998), die Ausstellung "Walk on the Wild Side" im Kantonsmuseum Liestal über Jugendszenen in der Schweiz von 1930 bis heute, eine Diskussion über Sprayer im Sommercasino, hörte immer mehr Hip-Hop ("Pass auf, dass du nicht auch noch zum Hip-Hopper wirst", sagten meine Mitbewohnerinnen), las viel und surfte im Internet.

Zentral für das Verständnis von Hip-Hop war der Besuch von Jams. Vor allem, wenn man bemerkt, dass das, was man studiert, eigentlich weniger fremd ist als man meint.

Ähnliche Erlebnisse bescherten mir die Interviews. Ich stellte wiederholt fest: Dass sich die Feldforschung auf einige Tage innerhalb eines für eine Übung ungewöhnlich langen Zeitraum verteilte, war auf der einen Seite positiv.

Zu viel Engagement?

Verändert hat mich die Forschung auf jeden Fall – nicht nur meinen Musikgeschmack. Sie provozierten mich immer wieder zu existenziellen (!) Lebensbetrachtungen: Das Hinterfragen seines eigenen Lebens ist eine der spannenden Momente, die Feldforscher erleben. Für die Wissenschaftlichkeit der Arbeit, lässt sich einwenden, birgt das eine Gefahr. Das ist – vom wissenschaftlichem Standpunkt aus - der Nachteil meines so langen Engagements. Meine Methode erfordert Engagement für andere, ein Eintauchen in ihre Welt. Wichtig ist aber immer eine Distanz, um "die Anderen" möglichst "objektiv" zu betrachten – ein Widerspruch, mit dem viele Forscher nicht klar kommen.

Philipp Bourgois:

Mir wurde beim Schreiben der Arbeit eine Neigung bewusst, die positiven Elemente herauszustellen. Korrekturleser meinten: "Du klingst zu euforisch!".

Die Interviews: Ohne Geduld nix los

Ich habe einen Ansatz gewählt, der das Individuum in den Vordergrund stellt. Die Interviews, die ich hier wörtlich wiedergebe, sollen Einblick in Persönlichkeiten der Szene geben. Dieser persönliche Ansatz schien mir angebracht, da Hip-Hop eine persönliche Ausdruckform ist.

Die Interviews sollen deutlich machen, dass es verschiedene Auffassungen von Hip-Hop gibt. Es gibt nicht die Hip-Hop-Kultur, sondern viele verschiedene Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstler, die einen gemeinsamen Nenner haben. Manche Aspekte der Hip-Hop-Kultur bleiben über Jahre hinweg gleich, andere verändern sich ständig, über manche bleibt man sich uneinig. Hip-Hop ist vielfältig. Wir werden der Vielfalt kultureller Erscheinungsformen nicht gerecht, wenn wir in unseren Analysen nur von Gemeinsamkeiten schreiben und die Unterschiede unter den Teppich kehren.

Die Organisation der Interviews war sehr aufwendig. Hip-Hopper sind vielbeschäftigte Menschen, neben dem Sprühen, Mixen, Trainieren und Üben gehen die meisten von ihnen noch Temporär- oder Vollzeit-Jobs nach. An Wochenenden sind sie sonstwo in der Weltgeschichte, manchmal sind sie für längere Zeit fort. Nur selten konnten wir uns Zeit lassen für ein längeres Gespräch (Tiger, Tarek, Kron). Gespräche fanden während der Arbeitszeit statt (ACE), in einer kurzen Tanzpause (Nicole) und hatten klare Zeitlimite (Chéjah u.a.).

Solche äussere Bedingungen beeinflussen das Gespräch, ebenso das Verhältnis zwischen Forscher und Interviewpartner(in), dessen Wichtigkeit Florence Weiss (1991) und Abner P. Cohen (1984) betonen:

So blieb das Interview manchmal ein Interview, manchmal wurde daraus ein Gespräch. Manche Hip-Hopper traf ich nur ein einziges Mal, andere mehrere Male, verteilt über fast zwei Jahre – ein Unterschied!

Eine Sache war das Arrangieren von Interview-Terminen, eine andere war die Verabredung an sich. Ohne Geduld nix los! Als bei der ersten Verabredung niemand kam, dachte ich:

Bei einer Verabredung im Jugi Gundeli bin ich vom Sozialarbeiter gleich begrüsst worden mit den Worten, jaja, die Person komme garantiert erst in ein, zwei Stunden, das sei normal. Wie bei einem Arztbesuch sollte man also Lektüre dabei haben. Dasselbe wiederholte sich von vorne, als ich ihnen die abgetippten Interviews zum Korrektur-Lesen und Autorisieren geben wollte. Auf manche Leute konnte man sich schon verlassen, ein flexibles Verständnis von Zeit war aber unabdingbar!

"Die richtigen Fragen stellen"

Filosof Bertram Russel sagte einmal, die grösste Kunst in der Wissenschaft sei, die richtigen Fragen zu stellen (siehe EMMET 1968). Die Interviews verliefen - wie gesagt – unterschiedlich. Ich hatte mir nach Besuch von mehreren Jams und der Lektüre über Hip-Hop einen Fragebogen erstellt. Ihn benutzte ich als Gerüst und als Hilfe, wenn ein Gespräch ins Stocken geriet. Ich hoffte, dass ich ihn möglichst selten benutzen würde.

Ich hoffte, dass sich aus einem Interview ein Gespräch entwickelte, das der Interviewpartner oder die Interviewpartnerin selbst steuerte, also dass über Themen geredet werden würde, die "die anderen" selber einbrachten. Kalmoo war da besonders aktiv! Ich denke, es ist eine interessante Mischung entstanden.

Aus manchen Interviews hätte ich freilich mehr heraus holen können. Oft stand ich unter Zeitdruck, und dann kann das passieren, was Florence Weiss beschreibt, dass man, geht man später zu Hause das Gespräch durch, bemerkt, dass man sich "weit weniger als üblich engagiert hat und das Gespräch überhaupt seltsam eintönig verlief" (WEISS 1991:24).

Oder ich stellte nicht die angebrachten Fragen mangels Vorwissen. Einer der Interviewten zum Beispiel ist für seine "extremen Meinungen" bekannt. In meinem Interview spürt man nicht viel davon. Jetzt, am Ende der Forschung weiss ich, wie ich mich im Vorfeld über meine Interviewpartner besser hätte informieren können.

Interviews haben eine begrenzte Aussagekraft. Sie vermitteln Gedanken, Einstellungen, Meinungen. Manchmal zweifelte ich, inwieweit man dem Gesagten trauen kann. Die Realität kann anders aussehen. Am besten sieht man das kommende Kapitel an als eine Ansammlung von elf Augenblicksbildern von elf Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstlern in Basel. Sie sollen keinen Überblick geben über die Hip-Hop-Szene, sondern einen Einblick - oder besser - elf Einblicke!


Kapitel 4: Die Interviews


Telefongespräch mit Black-Tiger am 26. April 1998

Muss man denn immer auf Englisch rappen? Warum nicht auf Baseldeutsch? Dann versteht wenigstens jeder, was man erzählt. 1991 sorgte Black Tiger noch für Furore in der Szene, als er als Erster auf Mundart rappte, jetzt ist Dialekt im Hip-Hop so selbstverständlich wie in der Volksmusik. Tiger zählt zu den besten Rappern in der Szene. Seine Gruppe Skeltigeron hatte kurz vor dem Interview einen Nachwuchswettbewerb unter Schweizer Bands anlässlich der 150-Jahr-Feier der Schweiz gewonnen. Tiger engagiert sich für die Szene, organisierte unter anderem eine Anti-Drogen-Aktion ("Wake Up"), war aktiv in der Hip-Hop-Vereinigung "B4R" und spielte im Hip-Hop-Stück GleisX mit.

Ich rief an, um den Interview-Termin mit ihm vorzuverlegen. Erst eineinhalb Stunden später legte ich wieder auf. Er fragt mich nach dem Ziel meiner Forschung. Ich antwortete: Die Hip-Hop-Kultur mit der Stadt Basel in Verbindung bringen. Es geht um die Situation von jungen Leuten in Basel. Black Tiger erklärt:

Black Tiger - Also das Hauptproblem ist Geld für Projekte. Es ist ein harter Weg, aus einer Idee etwas zu machen, eine Organisation oder eine Plattenfirma. Ich habe lange daran gearbeitet. Fünf Jahre, ohne etwas zu veröffentlichen. Zweieinhalb Jahre lang habe ich jeden Tag, ich übertreibe nicht, Beats zusammen gemischt. Dann wurde ich unzufrieden, habe das Aufnehmen abgebrochen und versuchte neue Wege zu finden.

Ich bekam ein Engagement im Theater Basel im Stück Vinny von Klaus Pohl, wo ich Texte gerappt habe. Das war eine Startchance für mich, um an Geld zu kommen, das ich auf die Seite legen konnte. Ich habe gespart, bis ich genug für eine Ausrüstung, einen Sampler für mehrere Tausend Franken, zusammen hatte.

Viele haben Ideen für Projekte. Sie müssen erst mal Geld zusammensparen um nicht abhängig zu sein von Leuten, die die Infrastruktur haben. Es ist extrem wichtig, dass es für Hip-Hop ein eigenes Studio gibt und auch Jüngeren zur Verfügung steht, gerade für neue Gruppen, die noch nicht soviel Geld haben. Im Tanzbereich ist es so, dass Tanzflächen fehlen. Allerdings wird auch nicht überall trainiert, wo man könnte. Das liegt wohl an Fehlinformationen.

Beim Sprühen geht es immer noch ab, obwohl durch die Polizei viel zerschlagen wurde. Jedoch nicht alles. Das Niveau ist nicht besser geworden. Viele Gute haben aufgehört, und die Jüngeren kopieren nur. Jeder muss erst seine Anzahl Jahre haben. Viele fangen an, ohne viel zu können und sprühen blindlings die ganze Stadt zu. Das verschlechtert dann unser Image.

Der DJ-Bereich floriert am meisten. DJs sind sehr angesagt. Allerdings bekommen sie längst nicht so grosse Gagen wie Techno-DJs, die Tausende an einem Abend verdienen können. Basel ist auch keine Metropole. Wir haben hier zwar eine starke Untergrundkultur. Zürich ist jedoch die internationale Metropole. Die grossen Rapgruppen kommen nach Zürich und nicht nach Basel. Zürich ist auch die Metropole, was Geld, Platten und Medien angeht. Alle grossen Medien sitzen in Zürich oder in Bern. Dabei kommt Basel oft zu kurz. Allerdings ist auch in Basel jetzt einiges am Laufen. Die Zeit wird immer reifer ....

Aber profitiert Basel nicht auch durch seine Grenzlage zu Frankreich und Deutschland?

- Wir haben nur spärlichen Kontakt. International ist Basel auch, aber nicht im Hip-Hop-Business. Zürich ist das Zentrum aller modernen Musikrichtungen. Es liegt auch am Flavour einer Stadt. Wenn viele internationale Acts in die Stadt kommen und man als Vorgruppe spielen kann, ist das Niveau gleich ganz anders.

Verstehst Du, was ich meine? Dann ist auch die Bereitschaft grösser, sich zu verkaufen. Man hat bessere Möglichkeiten. In Basel ist man nicht so aktiv, was Marketing betrifft, vor allem auf die ganze Schweiz bezogen. Hier zieht man sich mehr zurück auf die Stadt. Was die Internationalität für die Schweiz betrifft sind die drei, vier Sprachen schon eine Besonderheit. Das ergibt komische Konstellationen. In Lausanne und Genf schaut man in Richtung Paris, wir dagegen mehr in Richtung Deutschland.

Deutschland? Nicht in die USA?

- Ja, klar ist die USA die Nummer Eins, das ist sie ja auch in Frankreich und Lausanne. Businessmässig hat es aber Deutschland gepackt. Da gibt es eine grosse Szene, Plattenfirmen, da gibt es Leute, die zu 100 Prozent von Hip-Hop leben. In der Schweiz kann fast niemand vom Hip-Hop leben. Dazu ist die Schweiz zu klein. Allerdings steckt alles zur Zeit (April 1998!) in den Startlöchern. Mit Baselland ist ein Projekt im Mai in Aussicht, aus Bern und Zürich haben wir Anfragen zu Samplern bekommen.

Hip-Hop besteht für mich aus den vier Elementen MCing, Sprühen, DJ-ing und Breakdancen. Ich weiss nicht, was Du zur Geschichte des Hip-Hop weisst. Es ist ja afro-amerikanischen Ursprungs, kommt vom Geschichtenerzählen der Griots, eigentlich aus Afrika importiert, auch der Wettbewerb ...

... Den Wettbewerb, den Bambaata genutzt hat...

- ... um Kreativität statt Gewalt durchzusetzen, ja. Hip-Hop dreht sich immer um Wettbewerb, um die Frage: Wer ist der Beste? Doch je länger du dabei bist, umso mehr wird dir bewusst, dass es eigentlich keinen Besten gibt, sondern nur sehr viele Gute und sehr viele verschiedene Stile.

Du brauchst, ich weiss, das klingt für Aussenstehende vielleicht etwas komisch, eine gewisse Coolness, eine easy Haltung, eine Relaxtheit, die Überzeugung, dass man gut ist. Man hebt sich mit etwas hervor, von dem man weiss, dass man darin gut ist, mit etwas das man beherrscht, woran man gearbeitet hat. Um sich vorzustellen und sagen "Ich hab skillz".

Ich hab nie richtig an Battles mitgemacht. Das macht man in Basel auch kaum, nicht so wie in Zürich. Die gehen auch nicht immer friedlich ab. Ich habe nicht darüber gerappt "Ich bin der Beste", sondern über Sprühszenen, von Verfolgungen von der Polizei, über Drogen und Rassismus. Ich bekam dann allerdings schnell das Image des Anti-Drogen-Rappers, des Politisch Korrekten. Ich hab nicht dieses Konkurrenzdenken "Ich bin der Beste", sondern eher "Ich bin gut und kann das zugeben".

Wie bist Du eigentlich zum Hip-Hop gekommen?

- Durch meine Mutter. Sie wollte mich in den Film Wild Style mitnehmen. Aber damals wollte ich noch nicht. Sie hat mich dann ins Gewerbemuseum geschleppt wegen einer Graffiti-Ausstellung. Da hats Peng gemacht. Ich begann mit meinen ersten Graffiti-Skizzen, ich hörte viel Grandmaster Flash und Kurtis Blow. 1984 habe ich begonnen, Texte nachzurappen, 1987 habe ich meine ersten Texte geschrieben. 1989/90 bin ich in die Szene rein und habe in der Line gesprüht. Da habe ich viele Leute getroffen.

Erst dann? Wieso hat das solange gedauert?

- Ich bin keiner, der sich anbiedert, und meine Kollegen waren keine Hip-Hopper. Das war ein Deal mit meiner Mutter, nicht vorher mit dem Sprühen anzufangen.

Wann war Dein erster Auftritt als MC?

- 1991, das war bei einem Graffiti-Happening als Gastrapper bei P-27, mit denen ich auf dem Fresh-Stuff-Sampler erschien. Ich war da der Erste aus der Hip-Hop-Szene, der auf Schweizerdeutsch gerappt hat. Das war der Startschuss für den Schweizerdeutsch-Rap. Auf dem Fresh-Stuff-3-Sampler war dann fast jeder Rap auf Schweizerdeutsch.

Ich rappe nicht aus Patriotismus auf Schweizerdeutsch, sondern weil Schweizerdeutsch meine Muttersprache ist. In Basel gibt es auch Leute, die auf griechisch, italienisch, spanisch und französisch rappen.

Man liest immer wieder, Hip-Hop sei eine Minderheitenkultur, gut für Leute, um ihren Frust abzulassen. Scheint mir aber gar nicht so.

- Die meisten sehen sich nicht als Gewinner in der Gesellschaft. Als Musiker werden sie auch belächelt, Hip-Hop ist in der Schweiz nicht so anerkannt wie in Deutschland. Hip-Hop solidarisiert. Hip-Hop ist eine Therapie. Und zwar für alle, die ihn betreiben. Man wird nämlich automatisch besser mit der Zeit, wenn man daran arbeitet. Wenn ich den Schritt nicht kann, arbeite ich daran.

Es braucht viel Fleiss, aber auch Talent. Hast du beides, wirst du gut. Das ist oft ein langer Weg. Deshalb ist auch die Hierarchie im Hip-Hop so stark. Die, die länger dabei sind, werden von den Jüngeren herausgefordert. Es ist ein ewiges Messen. Das Niveau wird dabei tendenziell immer höher. Wir haben bei Null angefangen. Als wir angefangen haben, gab es noch keinen Schweizer Rap. Die Leute haben uns angeschaut: Schweizer Rap? Für Junge ist es heute legitim. In Deutschland ja auch.

In Frankreich aber schon länger, oder?

- Ja, Frankreich war auch massgebend für uns. Ich war in Paris in 1987/88, da habe ich in einer Disco eine Rapgruppe gesehen, die hat auf französisch gerappt. Und das Publikum hat mitgerappt. Das war das Erlebnis. Die können die Texte - Wow! Das ist doch, was Rap sein sollte. Deshalb rappen wir ja, damit es das Publikum versteht - und reagiert - mit einem Gegenrap, wenn jemand nicht einig ist. Das ist afro-amerikanische Kultur. Im Soul und im Blues hat man auch solche Lieder, im Pop gar nicht. Dieses Frage-Antwort-Spiel hat man inzwischen höchstens vom Hip-Hop übernommen.

Ich glaube auch, dass das ein Grund gewesen sein könnte, weshalb wir (Skeltigeron) den Nachwuchswetttbewerb gewonnen haben. Wir haben mit dem Publikum geredet. Im Pop sagt man nur "Das nächste Lied heisst...", verstehst Du?

Das ist mir auch bei Eurer Party aufgefallen mit Luana (Chéjah) ...

- Das wird man auch sehen bei unserer Party am 9. Mai 1998. So viele Rapper hatten wir noch nie auf einer Bühne in Basel. (...) Zur Therapie. Hip-Hop ist eine Therapie für alle. Man reflektiert darin, was man macht. Die Leute sehen dich, können dich kritisieren. Du musst Kritik ertragen können. Wir geben zu, dass wir gut sind. Wir wollen nicht in der grauen Masse verschwinden, wollen unser eigenes Monument erschaffen, zeigen, wer wir sind.

Das erzeugt natürlich enormen Druck, Leistungsdruck. Ich glaube auch, dass deshalb so wenige Mädchen dabei sind. Nicht weil sie die Leistung nicht erbringen können, sondern weil das ihnen, glaube ich, einfach zu blöd ist. Es gibt auch sehr viele Arrogante, die sagen, du kannst nichts, geh heim üben.

Die verwechseln etwas. Ich bin erzogen worden, vor jeder Person, die ich nicht kenne, Respekt zu haben. Ein Schüler sagte einmal zu mir: "Die Leute finden mich besser als dich." Im ersten Moment war das ein Schlag ins Gesicht. Dann dachte ich: Na und? Wäre doch langweilig, wenn wir alle denselben Geschmack haben. Ich arbeite an mir, weil ich Ehrgeiz habe. Das verwechseln viele mit dem Leistungsdruck im Hip-Hop.

Hip-Hop wird von den Leuten getragen, die konsumieren. Das Publikum ist wichtig. Wir leben vom Publikum, das müssen wir eingestehen. Hip-Hop entstand in Europa in einem geschlossenen Kreis. Breakdancer, Sprayer und DJs waren im Publikum. Da war jeder aktiv. So hat das begonnen, das kennt heute kaum mehr einer zwischen 14 und 18 so. Sie kennen Hip-Hop von Viva. Dort hören sie zum ersten Mal von der Old School, von Grandmaster Flash.

Jede Generation hat ihre eigenen Vorbilder. Man braucht ein Verständnis für Geschichte. Das gilt auch für Hip-Hop. Dass man weiss, wem wir Hip-Hop zu verdanken haben. Das ist wichtig zu wissen. Das Rappen von Grandmaster Flash und der Old-School war sehr einfach, heute gibt es so viele Facetten. Die Rhymes werden immer ausgefeilter. Der Groove wird flüssiger, breitet sich in alle Richtungen aus. Darauf wird extrem geachtet.

Nur die Leute bekommen props (respect), bei denen das stimmt. Zum Beispiel Maximilian von Freundeskreis. Freundeskreis mag man auch im Untergrund. Es gibt auch Elemente, bei denen sich die Geister scheiden. Fettes Brot zum Beispiel ist für manche nicht ernst genug. Ich dagegen finde es gut, wenn man eben nicht alles allzu ernst nimmt. Rap sollte mehr sein als nur Selbstdarstellung.

Politisch?

- Politisch, sozialkritisch, zwischenmenschlich, Hip-Hop sollte eine Botschaft haben.

Du hast noch nicht aufgegeben, Botschaften zu vermitteln?

- Botschaften muss man verpacken, auf die coole Art. Die Leute wollen einen guten Beat, nicht unbedingt eine Message. Aber einen Beat und eine Message zu haben, danach streben alle. Auf meiner Maxi habe ich mich mehr auf die Texte als auf die Reimtechnik beschäftigt. Das zu verbinden ist die Schwierigkeit. Gute Beats zu haben, Rhymes und eine Message, das ist das Essentielle. Und seinen eigenen Style: Ich kombiniere Alt und Neu und bleibe dennoch bei meinem Style.

Rap schafft Klarheit. Wenn Du sagst, "ich sags dir übers Mikro, du bist Scheisse, weil du's nicht bringst." Deshalb habe ich auch auf meiner Maxi eine Rapgruppe gedissed. Eine Rapgruppe (Three Trees) hat viel über Greenpeace und Umweltschutz gerappt. G Punkt rappte dann "Ich fahre so lange mit dem Auto herum, bis es keine drei Bäume mehr gibt. Dazu haben sie noch sehr schlecht gerappt, so dass man sie eigentlich nicht ernst nehmen kann. Jetzt musste ich sie aber mal dissen, musste ihnen sagen "Ich finde Euch Scheisse und mache das in der ganzen Schweiz bekannt".

Es geht um die Sache des Hip-Hop, die geklärt werden muss. So etwas verkauft sich dann noch als Schweizer Hip-Hop!

Wir sind eine eigenständige Subkultur und machen unser eigenes Ding. Wir wurden ausgegrenzt in Basel, von den Rockern. Da stand auf Plakaten, wir spielen nur gute Musik, keinen Rap. Da haben wir gesagt, wir brauchen Euch nicht. So ist das Selbstbewusstsein gestiegen. Deswegen ist es mir auch nicht so wichtig, dass wir vor einer Rockjury gewonnen haben. Verstehst Du das?

Ihr habt es nicht mehr nötig.

- Nein, das wäre arrogant. Wir sind bereits respektiert bei Leuten, die Hip-Hop gern haben. Das ist schwierig zu erklären. Wir haben nie auftreten dürfen, deshalb haben wir etwas Eigenes organisiert, eine eigene Szene.

Als MC auf der Bühne hast Du Macht. Dir hören sie alle zu. Mit deinen Botschaften sagst du, was Hip-Hop ist. Ist das so?

- Die Rolle der MCs darf man nicht überbewerten, aber auch nicht unterschätzen. Rapper sind intelligente Leute, können mit Sprache umgehen und sind sich ihrer Rolle bewusst. Doch Hip-Hopper mögen nicht das Theoretisieren. Sie bilden sich selbst ihre Meinung, die Texte sind nicht so wichtig. Allerdings kann man doch als Musiker mehr erreichen als ein Politiker, wenn man an Bob Geldorf und Live-Aid denkt.

Und an Euer Wake Up!?

- Ja, die Politik reagiert immer erst viel zu spät. Wir wurden damals immer ausgelacht, als wir über Drogen und Ghetto gerappt haben. Das sind alles Sachen gewesen, die wir vorausgesehen haben. Die Politiker sagten immer "Na, seid mal nicht so krass. Ihr seid doch nicht aus dem Ghetto." Jetzt ist Heroin aus dem Hip-Hop-Milieu verbannt. Du bist Aussenseiter, wenn Du Heroin nimmst. Das hat Wake Up bewirkt.

Wie kam Wake Up in Gang?

- Das war Luanas Idee. Sie nahm Kontakt auf mit dem Verein für Gassenarbeit. Dann wurde ein Rap geschrieben, ein Auftritt folgte und ein Konzert auf dem Barfi. Leute, die Heroin genommen hatten, waren auch da. Das war ziemlich hart. Dann wurde ein Sampler gemacht, der Präventionssampler. Darauf folgte eine Tournee durch die ganze Schweiz. Es war hart. In jeder Stadt sagten sie "Bei uns ist es Scheisse". Auch in Chur und in anderen Orten, wo wir es nicht erwartet hatten, nahmen Leute Heroin. Wichtig finde ich aber, dass man nicht mit dem Zeigefinger daherkommt, sondern Leute zum Denken animiert.

Hip-Hopper unterhalten also und engagieren sich gesellschaftlich.

- Ich habe ein Problem mit reiner Unterhaltung. Wenn man das Wort zerpflückt, dann heisst es eigentlich "unten halten" (zeigt: drückt jemanden bildlich nach unten). So wie Brot und Spiele der Alten Römer. KRS-One sagte deshalb, er mache "Edutainment": Education (Bildung) und Entertainment (Unterhaltung) gleichzeitig. In Frankreich ist Hip-Hop besonders in den Banlieus stark. Man rappt von seinem Quartier, von seinem 18. Pariser Arrondissement, in New York von der Bronx oder in Stuttgart von "Benztown".

Das macht für viele Hip-Hop so toll: Man lernt andere Städte kennen. Da entsteht eine Weltoffenheit, weil jeder von seiner Umgebung erzählt. Chuck D sagte, Rap ist CNN für Schwarze. Rap schärft das Bewusstsein: Man fragt sich: Wer bin ich? Woher bin ich? Das hat nichts mit Nationalbewusstsein oder so zu tun. Im Gegenteil. Einige haben sogar einen Komplex, weil sie nur Schweizer oder Deutsche sind. Darum fühlen sich so viele zum Hip-Hop hingezogen. Es ist global und lokal. Genauso wie viele Leute der zweiten und dritten Generation - sie sind auch "weder-noch".

Im Hip-Hop kannst du dich entwickeln, egal woher du kommst. Rassen- und Klassenunterschiede existieren nicht. Dafür geht es halt um die Frage: Wer ist besser? Eine Anarchie gibt es nicht, man baut sich immer wieder ins System ein. Im Unterschied zu den Punks zum Beispiel reden wir über Zukunft, Geld, Überleben und Gut-Leben. Revoluzzern ist nicht unser Ding. Hip-Hop hat viele konservative Elemente, dessen sind sich viele nicht bewusst. Viele denken links, wollen aber nicht viel mit Linken zu tun haben, sind zum Beispiel für erleichterte Einbürgerung. Aber auch nur, weil es sie selber betrifft.

Ein Problem ist ja sicherlich die Kommerzialisierung. Eine zweischneidige Sache?

- Ich finde, Kommerz ist cool. Ich gönne es jedem, wenn er davon leben kann, was er mag. Da habe ich Respekt. Wenn jedoch jemand kommt und das nur macht, damit andere ihn cool finden und er Geld machen kann, dann bekomme ich Probleme. Sorry, das ist "Sell-out", er verkauft sich und seine Seele. Deshalb heisst der Track auf der Maxi "Sell out suckers".

Verkaufen zu wollen ist doch legitim. Ich will nicht im Untergrund sterben. Ich mache es, weil es Spass macht. Mit CH-Rap kann man nicht viel Geld machen. Man sagt schnell Kommerz und meint in Wirklichkeit Sell-out. Jeder arbeitet daran, dass er davon ernten kann, was er macht. Das war früher auch schon so. Respekt gilt allen, die es geschafft haben uns sich treu geblieben sind.

Welche Unterstützung braucht Jugendkultur?

- Man soll nicht nur fordern. Ich habe alles selber aufgebaut. Was fehlt, sind gute Räumlichkeiten. Ein Freiraum. Etwas, das Leute von der Strasse holt. Das Jugi Gundeli zum Beispiel ist cool. Wenn das die ganze Zeit offen wäre! Ateliers und Studios brauchen wir. Die kann man sich nur leisten, wenn man arbeitet. Legale Wände brauchen wir auch. Es wäre schön, wenn Veranstalter Einheimische im Vorprogramm auftreten lassen würden.

Was sind Deine Pläne für die Zukunft?

- Ende April 99 höre ich auf im Roxy. Was ich dann mache, weiss ich noch nicht genau. Konzerte geben, Sprühen, DJ-ing, Schauspieler sein? Auf jeden Fall will ich nicht mehr 100% arbeiten. Das killt Kreativität.

UPDATE:

Review von Black Tigers Solo-Album (aight-genossen.ch, 26.9.03)
Interview zum gemeinsame Album von Black Tiger & Rony "zwei in aim" (aight-genossen, 12.9.03)
News-Uebersicht Black Tiger vom Online-Magazin Aightgenossen (aight-genossen.ch)


Gespräch mit ACE am 6.November 1998 in seinem Laden

ACE gehört zu den Leuten, die vom Hip-Hop leben. Alle kennen ihn. Er ist ein gefragter und respektierter DJ, veranstaltet regelmässig Jams und hat ausserdem den einzigen reinen Hip-Hop-Laden Basels. Inzwischen (Ende 1999) hat er eine Filiale von ACE Records in Bern und einen Streetwear-Laden in Zürich eröffnet. Ein richtiger Business-Man?

ACE lacht und wird schnell wieder ernst. "Bei vielen, die angefangen haben, professionell mit Hip-Hop zu arbeiten, hat die Qualität nachgelassen. Ich will darauf achten, dass es bei mir nicht so wird." Sein Basler Laden befindet sich etwas versteckt in einem Hinterhof an der Steinentorstrasse. Er ist etwa 30 bis 40 m2 gross. ACE begrüsst mich und zeigt mir den Laden.

-In Zürich hat es ein viel grösseres Angebot. Da dachte ich, man müsste in Basel auch mal so etwas anbieten.

War das nicht schwierig aufzubauen?

-Nein. ACE ist in Basel ein Begriff. Es gab keine Probleme, der Laden läuft gut. 1996 fing ich an. Da war der Laden weiter oben in diesem Gebäude, viel kleiner und nur von 17 bis 20 Uhr offen. Ich betrieb ihn nur nebenbei. Hip-Hop ist ein teures Hobby, so wollte ich es mir finanzieren. Vor einem Jahr bin ich in diesen Raum umgezogen, arbeite zu 100% und lebe davon.

Was ist so teuer daran?

-Die Platten. Als DJ brauchst du jede Platte zweimal.

Wie viele hast Du?

-Um die 3000. Ausserdem braucht man Plattenspieler, Nadeln, Mixer. 2000 Franken kostet die Grundausstattung.

Was bietest Du an? Hast Du einen Schwerpunkt?

-Hauptsächlich LPs, Vinyl. Hauptsächlich Rap, East-Coast Rap, Breakdance, Funk, R&B und Scratch-Platten. Bei den CDs kann ich nicht mit den grösseren Läden konkurrieren. Ausserdem hab ich Sprühdosen, Hip-Hop-Videos und Magazine. In einer Woche bin ich genau ein Jahr hier. Es kommen auch Leute aus Süddeutschland.

Und aus dem Elsass?

-Nein, daher weniger. Sonst viele aus den umliegenden Kantonen.

Ich frage ihn nach Platten von Baslern. Er zählt auf: MC Rony/Def Cut, AOH-Family und eine von Tafs, die ich mir kaufte.

Du bist hauptsächlich DJ?

-Ich habe alles mögliche gemacht: gerappt, gebreakt. Jetzt sprühe ich und bin DJ. 1996 wurde ich Schweizer Meister im Scratchen, 1997 und 1998 türkischer Meister.

Türkischer Meister ?

-Ich bin Doppelbürger. Den Verband DMC (Disco Mix Club) gibt es in 64 Ländern und hat Sitz in London.

Worauf kommt es beim Scratchen an? Was zeichnet Dich aus?

-Schwierig zu sagen: Technik und Stil (beim Scratchen). Was mich auszeichnet: Ausstrahlung, Show, Ideenreichtum . Ich kommuniziere mit den Leuten.

Das machen nur wenige. Die meisten stehen nur auf der Bühne.

- Das ist eine Charakterfrage. Da kommt wohl auch mein südliches Temperament rüber.

(ein Velokurier kommt und fragt ACE nach einer Platte)

-Man muss unterhalten können, muss technisch gut sein, einen eigenen Stil haben. Man braucht ein gutes Gehör, muss sich einfühlen können in die Menge, das Feeling mit dem Hilfsmittel der Platte verstärken. Wenn sich zum Beispiel die Leute austoben wollen, bringe ich Hard Core.

Da kann man sich nicht darauf vorbereiten, oder?

-Nein, das macht man spontan. Ich mache alles live. Zu einer Party nehme ich drei Kisten Platten mit. Man weiss nie, was einem erwartet.

Legst Du regelmässig auf?

-Ich könnte in Basel in irgendwelchen Schicki-Micki-Discos auflegen, aber da kann ich mich nicht richtig entfalten. Ich bin Booking-DJ und lege an speziellen Anlässen (Hip-Hop-Parties,Modeschauen, Konzerte, Theater) auf, in der ganzen Deutschschweiz. Ab dem Jahr 2000 habe ich einen Manager und stehe beim Ministry of Hip Hop unter Vertrag, der die Bookings für regelmässige Auftritte organisiert. Ich bin viel unterwegs. Eine richtige Hip-Hop-Location gibt es in Basel nicht.

Und was ist mit dem Sommercasino? B4R hat da doch regelmässig etwas veranstaltet.

-Aber B4R gibt es nicht mehr. Der Hip-Hop-Abend am Donnerstag ist eingegangen. Es ging nicht lange. Du siehst, so kann nichts Neues entstehen.

Warum?

-Sie mussten sich einmieten. Sie waren darauf angewiesen, dass viele Leute kommen, um die Miete zu bezahlen, die Leute kamen nicht. Basel ist eine komplizierte Stadt.

Wieso?

-Die Leute stellen hohe Ansprüche. Die Szene ist zersplittert, gespalten. Es gibt sehr viele kleine Gruppen. Wenn es zehn Gruppen hat, hat jede vielleicht nur zehn Mitglieder. In grösseren Städten wie Zürich ist das kein Problem. Da hat es hundert Mitglieder in zehn Gruppen. In Basel hat der Hip-Hop eine hohe Qualität. Aus Basel kommen die besten DJs, Writer und Rapper der Deutschschweiz. Vielleicht sind die Leute deshalb so anspruchsvoll. Die Stadt ist jedenfalls zu klein, jeder meint, über den anderen alles zu wissen, die Gerüchteküche brodelt.

Was ist Deine Vision?

-Meine Vision? (überlegt) Einen Ort zu schaffen für Black Music, Funk, R'n'B, von dem die Leute sagen, da ist es cool, da hat es gute Leute. Wie das Babalabar.

Wie bist Du eigentlich zum Hip-Hop gekommen?

-Als ich 12 Jahre alt war, ist mein Stiefbruder mit einer Mixplatte heimgekommen. DJ-sein, das kann ich auch, sagte ich mir und habe mir Schrottzeug besorgt. Bei der Eröffnungsparty auf dem Stucki-Areal habe ich mich hereingeschlichen. Während mein Bruder flirtete, habe ich aufgelegt (wir lachen beide).

Was hat es mit Deiner Kings Organisation auf sich?

-Wir haben vor kurzem eine GmbH gegründet, um professioneller zu sein. Wir repräsentieren alle vier Sparten. Wir haben ein eigenes Graffiti-Magazin und betreiben eine Künstleragentur. Wir vermitteln DJs und Breaker für Veranstaltungen. Wir vertreiben Sprühdosen und veranstalten Jams. Wir haben eine Zeit lang Textilien mit eigenem Design verkauft.

Wie fing alles an? Warum hast Du sie gegründet?

-1994 habe ich mit Mazlum Acar - er ist Profi-Thai-Boxer - die Kings Organisation gegründet. Wie haben Veranstaltungen organisiert, damit was läuft. Zu der Zeit war Gewalt auf Parties ein Problem. Wir haben Störenfriede integriert und angestellt. Wir hatten Erfolg. Nach etwa zehn Parties dachten wir: Wir brauchen einen Namen, der unsere Ideen widerspiegelt. Der Name ist zweideutig: keine Chance und Qualität. Damals waren acht, neun Leute, nur Türken. Jetzt ist es durchmischter: Türken, Schweizer, Jugos, Serben, Kurden, Italiener. Wir sind zwischen acht und 15 Leute.

Warum anfangs nur Türken?

-Die Idee war ursprünglich, den schlechten Ruf wegzubekommen, der Öffentlichkeit zeigen, dass wir gute Parties organisieren können.

Was ist typisch für Basel als Stadt?

-Erstens das hohe Niveau. Zweitens, es gibt verschiedene Styles. Den ZH-Style kann man sofort erkennen. Einen einheitlichen BS-Style gibt es nicht. Drittens, die Zersplitterung. Das ist jedoch nicht unbedingt etwas Negatives. Mich stört, dass es so wenige Gleichaltrige gibt. Es gibt keine feste Hip-Hop-Location. Sobald es ernst wird, entscheiden sich die meisten gegen Hip-Hop. Über 18/19 gibt es kaum mehr jemanden. In Zürich ist die Situation anders. Da gibt es auch ältere Leute.

Wie alt bist Du?

-24.

Wie soll man denn mit Hip-Hop Geld verdienen können?

-Durch diese Agentur zum Beispiel. Wir vermitteln Leute, die Talent haben. Breaker zum Beispiel, die auf Geschäftsfesten auftreten können. Die Leute wissen gar nicht, was es alles gibt. Die Künstler stehen parat:Elf: fünf DJs, fünf Breaker, einen MC.

Wie ist dein Verhältnis zur Stadt? Kürzlich machte die Stadt Stress wegen den Sprühern ...

-Ja, sie mussten mal wieder zeigen, dass sie hart durchgreifen können. Aber wenn man Basel mit Zürich vergleicht, ist Basel eine liberale Stadt. Wir haben es hier sehr gut. Ich habe nie schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Und viertens, die Szene ist sehr anspruchsvoll. Das spornt an.

Aber richtig anerkannt ist Hip-Hop noch nicht in BS.

-Das stimmt. Lauryn Hill von den Fugees hören alle. Das ist genauso Hip-Hop wie KRS-One. Trotzdem kommen sie nicht auf eine Hip-Hop-Party, wenn man sie fragt. Das erstaunt mich. Hip-Hop? Das ist nichts für mich, sagen sie. Der Begriff Hip-Hop ist negativ beladen. Er wird verbunden mit Gewalt, Verbrechen.

Die Berichterstattung in den Medien hat dazu beigetragen. Anfang der 1990er-Jahre ist jedes Verbrechen mit Hip-Hop in Verbindung gebracht worden. Ende der 80er-Jahre gab es nur wenige Aktivisten. Es gab viele Gangs und Gegengangs. Jede Gang hatte ihre Schläger. Als sie sich auflösten, hatte die Polizei die Schläger rausgeholt. Die Aktivisten machten weiter. Darunter waren auch türkische Gangs und Aktivisten. Diese Vorgeschichte hat die Szene geprägt.

Die Probleme hängen wohl auch mit dem Konkurrenz innerhalb des Hip-Hop-Milieus zusammen.

-Lass mich eine Geschichte erzählen. Einmal sammelte einer alle zu einem Diskussionsabend. "Wir machen alle dasselbe. Wieso verkrachen wir uns? Lasst uns das zusammen machen!", sagte er. Dann meldete sich einer und sagte: "Wenn wir alles zusammen machen, gibt es keinen Wettbewerb. Ohne Konkurrenz können wir uns nicht weiterentwickeln." Das, glaube ich, erklärt das sehr gut.

Den Zwiespalt?

-Ja.

Fühlst Du Dich mehr als Schweizer oder Türke?

ACE gibt mir zu verstehen, dass er die Frage nicht sonderlich mag

-Die Frage setzt mir Grenzen. Das mag ich nicht. Ich bin ein 2.Generation- Türke, hier aufgewachsen und fühle mich nirgends daheim – weder in der Türkei noch hier. Deswegen sage ich eher, dass ich mich als Türke fühle.

Warum?

-Die türkische Kultur ist schon noch mehr in mir.

Wieso? Du bist doch hier aufgewachsen.

-Wegen der Erziehung. Türken der ersten Generation kamen hierher um Geld zu machen und wieder zurück zu kehren..

Aber muss man denn alles annehmen. Du kannst ja sagen, ich wohne hier, was interessiert mich...

-Ja, aber bis du dir solche Gedanken machen kannst, ist es zu spät, da bist du schon 14, 15 Jahre alt.

Ich finde die Frage ja auch blöd, man liest halt immer von den 2.Generations-Ausländern. Ich mag diese Bezeichnung auch nicht. Du bist ja etwas Neues.

-Ja, eher etwas Undefinierbares.

Spielt Nationalität überhaupt eine Rolle, gerade im Hip-Hop?

-Nein, die Mentalität wird einem aber angezogen. Da merkt man es schon und kommt nicht immer mit allem so gut an. Das ist nicht rassistisch gemeint. Das wäre gegen Hip-Hop-Gedankentum.

Es gibt auffallend viele gemischte Paare.

-Ja. Der Hip-Hop-Gedanke ist Akzeptanz (respect).

In Basel sind die Leute nie so vermischt wie in einem Hip-Hop-Jam. Basel hat eine Tendenz zur Ghetto-Bildung: Hier die Schweizer, da die Ausländer.

-Das ist eine gute Beobachtung. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht, als ich auf dem Gymnasium war. Die Gesellschaft ist sehr unterteilt. Hip-Hop vereinigt.

In der wissenschaftlichen Literatur steht, Hip-Hop würde hauptsächlich Ausländer aus der zweiten Generation anziehen, oft ohne Ausbildung. Mir schien, die Leute in Basel seien mehr vermischt.

-Das stimmt schon. Aber es spricht schon diese Leute besonders an ...

(eine elegant gekleidete Frau um die 20 spricht ACE an. Nach seiner Frage, ob sie auf ein Hip-Hop-Event mitkommt, sagt sie: "Mit den Kleidern, die ich anhabe?" ACE schaut zu mir hinüber und sagt mit schlecht unterdrückter Ironie: "Aufschreiben!")

-... Ich würde sagen, von vielleicht 100 Leuten, stammen gut 70 aus dieser Gruppe. Die meisten springen mit der Zeit ab. Fünf bleiben beim Hip-Hop. Ein Türke kann nämlich nicht einfach zu seinem Vater sagen: Ich gehe tanzen. Der Vater will, dass die Zukunft seines Sohnes mit einem seriösen Beruf gesichert ist. Im Sport ist es ähnlich. In den Jugendmannschaften vom FCB sind die Türken manchmal sogar in der Mehrheit. Bei den Profis hat es nur noch wenige, in der Nationalmannschaft nur einen einzigen.

Hattest Du auch einen strengen Vater?

-Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen und habe sehr viele Freiheiten genossen. Ich habe sie aber nicht so genutzt wie viele meiner Kollegen. Drogen, krumme Sachen und so, damit hatte ich nie zu tun. Du weisst ja, eine Zeit war es Mode, Alu zu rauchen, fast alle meine Kollegen damals haben das gemacht.

Und du gar nicht. Wieso? Bewusst? Erziehung?

-Mein Schlüsselerlebnis war das Konzert von ICE-T in Basel. Ich war 12 damals, und meine Mutter erlaubte mir nicht hinzugehen, weil ich zu jung war. Wir haben uns eine Weile gestritten und fanden einen Kompromiss: Ich darf hin, wenn ich keine Drogen nehme. Ich habe das Versprechen gehalten.

Und deine Kollegen hatten keine Eltern, die sich so um einen kümmerten?

-Nein, nicht so. Das hängt mit der Nationalität zusammen. Die Eltern arbeiten Vollzeit und haben keine Zeit für ihre Kinder.

Was hat das mit Nationalität zu tun? Bei den Schweizern arbeiten doch auch oft beide Elternteile.

-Die Migranten kamen hierher, um Kapital zu machen, da blieben die Kinder auf der Strecke. Die Migranten in den 70er-Jahren kamen nur aus finanziellen Gründen hierher und wollten wieder in ihr Ursprungsland zurückkehren. Verstehst du? Sie waren mehr als die Schweizer fixiert aufs Geld-Verdienen. Schweizer haben schon eine bessere Grundlage – ökonomisch und sozial.

Es ist 19 Uhr geworden. ACE muss seinen Laden schliessen. Wir gehen hinaus. Er geht zu einem Basketball-Match. Sein Bruder hat eine türkische Mannschaft gegründet.

UPDATE:

Ace ist nun auch im Netz! »ACE's Homepage
Als erster DJ aus Europa hat DJ ACE aus Basel zusammen mit dem legendären Tony Touch aus den Staaten ein gemeinsames Mixtape aufgenommen - siehe Review seines neuesten Mixtapes mit Tony Touch auf hiphop.de (8.3.04)


Gespräch mit Kron am 13. Januar 1999 im Jugi Gundeli

Kron ist Sprüher. Er ist mir im Jugi Gundeli als einer der besten Basels vorgestellt worden. Er ist viel unterwegs, deshalb war ich froh, einmal mit ihm abmachen zu können. Um das Jugi herum sind an allen Wänden Graffitis zu sehen. Freien Raum gibt es nicht mehr. - Übersprühen darf man nur, wenn man qualitativ besser ist, erklärt mir Kron, nachdem ich ihn gebeten hatte, mir ein paar Graffitis zu erklären. - Man sieht gut, wer schon länger dabei ist, sagt er. Man kenne sich in der Szene, die gut 100 Writer umfasst. Kron ist stolz über die Qualität der Basler-Graffiti-Kunst. Sie sei in Basel höher als in Zürich. Er zeigt auf ein Werk in der Wand mit einfachen schwarz-silbrigen Linien.

Kron- Das ist Streetbombing, wie sie es in Zürich machen. Kein Style, das ist nur billig. Und alle machen das nach. Sie benutzen Unterbodenschutz- und Teerspray. Kennst Du die Line in der Zugeinfahrt zum Basel SBB? Hin- und zurück ist auf zehn Kilometer alles voller Graffitis. So etwas gibt es nicht in Zürich. Das ist alles illegal nachts gesprüht worden. Das ist Qualität. Niemand traut sich, es zu zerstören. In ganz Europa ist die Line bekannt. Sprüher kommen von weither, um sie sich anzuschauen. Das ist die Hall of Fame!

Was ist eine Hall of Fame?

- Ein Platz, wo aufwendige Bilder hoher Qualität entstehen.

Wo gibt es in Basel noch Halls of Fame?

- Am Gartenbad Bachgraben. Sie ist legal. Dann noch am Schänzli (St.Jakob). Die Qualität ist da aber nicht so hoch. Ein Problem in Basel ist, dass es nur wenige legale Wände gibt. Man muss illegal sprühen.

Seid Ihr zumindest an manchen Orten geduldet?

- Jetzt ist es extrem. Die Polizei macht Razzias daheim bei Sprühern, bei Anti-Graffiti-Kampagnen (Color Peace), wo sie uns an ein paar Tagen freie Wände in St.Jakob gaben, wimmelte es von Polizisten, die schauten, wer da zum Sprühen kommt. Sprüher werden kriminalisiert, da reichen Gerüchte. Das ist richtiger Psychoterror. Man darf die Wände nicht mal selber überstreichen wie in anderen Städten. Man muss die vollen Kosten zahlen, 10'000 Franken für eine Wand, dazu Gerichtskosten, Bussen. Manche kommen in den Knast.

Man wird kriminalisiert. Das erzeugt natürlich Gegengewalt. Graffiti kann man nicht verbieten. Graffiti ist Kunst. Das Problem ist, dass es keine legalen Wände gibt.

Eine dumme Frage. Warum müssen denn Graffitis unbedingt draussen sein?

- Im Stucki hatten wir drinnen gesprüht. Ich wäre froh, wenn wir drinnen sprühen können, gerade im Winter oder wenn es regnet. In Paris haben wir auch in alten Lagerhallen gesprüht.

Aber dann kann ja niemand die Bilder sehen. Ist das nicht wichtig, dass man sie sieht?

- Ich mach sie für mich. Wen die Bilder interessieren, schaut sie ohnehin an.

Bist Du schon mal erwischt worden?

- Ja, einmal ganz übel. Ich bin wie ein Einbrecher verfolgt worden.

Wie kommst Du ins Bahngelände?

- Es gibt genug Eingänge.

Arbeitest Du ganz nah an den Schienen?

- Meist ist um die vier Meter Platz. An der engsten Stelle eineinhalb Meter. Es ist noch nie einem Sprüher etwas passiert.

Sprühst Du auch in anderen Städten?

- Ja, besonders im Sommer bin ich an fast jedem Wochenende woanders: in Bern, München, Stuttgart, Heidelberg, Lörrach, Freiburg, Paris, Zürich, Genf, Biel, Bern, Luzern. Ein gutes Feeling. Man trifft Kollegen, ist viel auf Besuchen.

Wie sind die anderen Städte zum Sprühen im Vergleich zu Basel?

- In Frankreich ist Graffiti verboten. In Paris sind sie in der Banlieu geduldet. Es gibt keine legale Wände, wir sprühen in halb abgerissenen Häusern und Fabrikgebäuden. In Heidelberg gibt es ein paar Wände, in Genf gibt es viele geduldete Wände, aber da sprühen nur wenige. In Basel ist es schon extrem mit der Line. Da kommt keine andere Stadt heran. Die Basler nehmen das Sprühen ernster. In Genf sprühen sie eher just for fun. Was sie in einem Jahr sprühen, sprühen wir in einem Monat. Viele sind auch älter, so zwischen 20 und 30. In Deutschland himmeln die Jüngeren die Stars oft an. So etwas gibt es in der Schweiz nicht. Die Sprüher an der Basis nehmen es ernster. Deshalb kommen viele aus Deutschland gerne in die Schweiz. Sie sagen, "Ihr habt die richtige Einstellung".

Gibt es im Sprühen auch Battles?

- Das geht via Übersprühen. Das pusht an. Das lässt sich auch nicht wie Breakdance kommerzialisieren.

Bekommt Ihr ab und zu Sprüh-Aufträge?

- Es gibt nur wenige Aufträge, das ist in Deutschland besser. Die Medien haben die Lage noch verschlimmert. Die Leute trennen nicht zwischen guten und schlechten Bildern. Sie werfen alle jungen Leute in einen Topf. Graffiti ist für mich keine Kunst, sondern eine Ausdrucksform. Graffitis sprüht man eigentlich nicht auf Leinwand und stellt es in Galerien aus. Graffiti ist nichts anderes als seinen Namen zu schreiben, sich mit Buchstaben auseinander zu setzen.

Und wie verhält es sich mit diesen Bildern da (zeige), den Eiffelturm zum Beispiel?

- Das ist ein Character. Beim Graffiti schreibst du nur deinen Namen. In den 60er- und 70er-Jahren hat das angefangen. Der Mensch hat schon immer ein Bedürfnis dafür gehabt. Man ritzt seinen Namen in einen Baum ein zum Beispiel. Man möchte raus aus der Anonymität.

Was meinst Du damit?

- Man möchte zeigen, dass man etwas erreicht hat. Ich habe etwas gemacht, ein Ziel verfolgt. Ich habe etwas gemacht, was nicht alle können. Wir distanzieren uns von den normalen Leuten, vom Konsumentsein. Für mich ist das Selbstbestätigung. So hat das angefangen. Man schreibt, ich war hier: Das sind Tags. So hat es sich weiterentwickelt, dass Bilder daraus wurden. Heute ist man soweit, dass grosse Bilder mit einem Sinn dahinter entstehen.

Zum Beispiel?

- Im St.Jakob hab ich mit Sprühern aus Paris ein Konzeptbild über Helloween gesprüht. Wenn man hinschaut, sieht man die ganze Geschichte des Festes, wie die Leute feiern und so weiter.

Du sagst, Graffiti sei keine Kunst. Was ist Kunst für dich?

- Kunst ist Geld, Ausverkauf, Art, Gallerie. Graffiti macht man auf der Strasse. Natürlich macht man Graffitis auch auf Leinwand, das habe ich auch schon gemacht. Da kann man besser experimentieren.

Kron zeigt mir gute und wenige gute Graffitis, Pieces. Gute wirken sehr dynamisch, haben Perspektive, man meint, sie seien lebendig und könnten jeden Moment davon springen. Bei den weniger guten sieht man, dass der Sprüher nicht ganz frei, etwas verkrampft war.

- Man muss lernen, mit den Farben umzugehen. Hier, sieh, blau und grün sind Farben, die nicht gut zusammengehen. Aber dieser Sprüher hat geschafft, eine Wirkung damit zu erzielen. Toll!

Haben die Bilder eine Botschaft?

- Sie sind Selbstdarstellung. Writing My Name. Sie drücken die Gefühlslage des Writers aus. Ich kann genau sehen, dem geht es heute gut oder der hat gerade eine schlechte Phase. Früher hat man manchmal Messages reingeschrieben. Stop The Violence oder so. Heute weniger. Es stehen eher Widmungen oder Provokationen drin. Aber jeder kann die Bilder anders sehen.

Wie bist Du auf Deinen Namen Kron gekommen?

- Der erste Dosenhersteller hiess Krylon. y und l hab ich weggelassen. Es hat auch etwas mit Krone zu tun. Das bedeutet "höheres Niveau", ist aber auch stachelig und aggressiv. Ausserdem gefallen mir einfach die Letters.

Bist Du Einzelgänger oder arbeitest Du in einer Crew?

- Ich bin in mehreren Crews, in Paris auch.

Haben sie auch Namen?

- Ja. CM (can monster), DFB (Da Force Brothers), CP (Cercle privé‚) in Paris und Métissage (Mischling), eine Organisation in Paris, die Workshops organisiert.

Wie alt bist Du?

- Ich werde 24.

Wie bist Du zum Hip-Hop gekommen?

- Ich habe schon mit neun Jahren angefangen. Mit Tanzen. Im St.Johann haben Leute auf der Strasse getanzt. Ich habe Hip-Hop nicht über das Fernsehen kennen gelernt. Ich bin hineingewachsen. Einer war mal in New York und hat davon erzählt. Ich kannte nur das. Er tanzte wie ein Roboter, und ich habe es auch probiert. Am Anfang war es nur Spass. Als ich 13 war, habe ich ernst gemeint mit Breakdance und habe auch zu sprühen angefangen. Dann hatte ich mal einen Autounfall, danach konnte ich nicht mehr tanzen und sprühe nur noch. Eigentlich macht man im Hip-Hop nicht nur eine Sache, sondern setzt sich für alle Elemente des Hip-Hop ein.

Wie hast du dich über Hip-Hop informiert?

- Ich habe Leute gefragt, die schon länger dabei waren und mehr Erfahrung hatte. Ich war sehr neugierig und bin auch selber nach New York gegangen.

Bist Du zufällig in der Hip-Hop-Szene gelandet?

- Nein. Hip-Hop ist eine Bewegung der Unterschicht, von Leuten ohne Arbeit. Früher waren es hauptsächlich Italiener, Spanier und Jugoslawen. In New York waren es die Puerto-Ricaner. Kreativität sollte Schlägereien verhindern.

Hast Du Dich ausgegrenzt gefühlt?

- Man war ja eh unter sich. Viele suchten eine Identifikation.

Wie meinst Du das?

- Sie wollten etwas sein, wollten etwas machen, was Sinn gibt. Hip-Hop gab vielen, was sie nicht hatten. Selbstbestätigung zum Beispiel. Stolz, Mut. Du kannst etwas erreichen, wenn Du willst. Viele hatten Stress zu Hause. Nach der Schule wussten wir nicht, was wir machen sollten und haben uns gelangweilt. Ich hab das auch alles durchgemacht. Wir sind aufgefallen mit der Kleidung, damals lief ja kaum jemand mit Jeans und Turnschuhen herum. Ab und zu haben wir uns in Jugendtreffs getroffen, aber nur abends. Tagsüber haben wir das Radio mitgenommen und auf der Strasse auf Kartons getanzt oder im Park.

Kannst Du noch mehr über die Geschichte erzählen? Wann hat es in Basel angefangen?

- In der Line ist 1983 das erste Bild entstanden. Ich glaub, es hiess "Sky", es war (qualitativ) der Zeit angemessen. Damals konnte man nicht so viele andere Bilder sehen und kam nur mühsam voran.

War es das erste Graffiti in Basel?

- Nein, das erste Bild 1981 wurde am Schulhaus St.Johann gesehen. Das hat Zone gemalt. Er malt nicht mehr.

Kennst Du noch Namen der ersten Writer?

- Joe (Arsen), Posk, Rebell.
Am Anfang war Hip-Hop es ein Verzweiflungsschrei. Wir wollten uns nicht ans System anpassen, wollten nicht nur konsumieren. Wir wollten sagen, uns gibt es auch noch. Wir wussten nicht, was wir machen sollten.

Es war schon extrem früher. In den Jugis trafen sich Leute aus zerrütteten Familien. Man hat Zusammenhalt gesucht, den es in der Familie nicht gab. Viele Jugendliche sind geflüchtet von den Problemen zu Hause, wollten ihre Ruhe. Manche hatten Eltern, die Alkoholiker waren. Die Eltern sagten dann, mit den Leuten darfst du nicht `rumhängen. Viele in der Szene sind nicht aufs Gymnasium gegangen, stammen auch nicht aus reichen Verhältnissen.

Jetzt ist es in den Jugis viel gemischter, es sind auch mehr Schweizer darunter. Jetzt ist Hip-Hop multikulturell. 1993/94 gab es einen Boom, Hip-Hop wurde Mode. Wenn man früher nach Rap-Platten fragte, ist man sonst nur komisch angeschaut worden. Viele haben ihre Platten in England oder in den USA eingekauft. Es gab keine Infrastruktur.

Hip-Hop ist eine Lebensart, die prägt. Eine Sucht, eine Droge. Man kann es nicht stoppen. Es ist nicht nur ein Hobby. Bist du damit aufgewachsen, nimmst du es ernst und verzichtest auf anderes. Ein Problem ist, dass Leute aus dem Kern nicht auffallen. Die Kleider, die Mode gehören nicht zum Hip-Hop. Ich habe nur das an, was bequem ist.

Hip-Hop hat viele von uns schneller erwachsen gemacht. Wir sind selbständiger geworden, kritischer, schauen, was für einen selbst gut ist. Man lässt sich nichts mehr gefallen, jammert nicht nur herum.

Manche betreiben sogar eine eigene Plattenfirma und sind Veranstalter von Jams und Konzerten.

- Ja, wir wollen etwas erreichen und nicht nur konsumieren.

Aber was ist mit denjenigen, die es nicht schaffen, gut zu sein?

- Es geht nicht darum, gut zu sein. Du musst Ehrgeiz haben.

Kann es sein, dass diejenigen, die es nicht schaffen, rumschlägern, um sich Respekt zu verschaffen?

- Hm. 1993 als Hip-Hop-Mode wurde, gab es immer wieder Gewalt auf Jams. Sprühen ist das Element, das am härtesten ist. Die Jungen sehen nicht, was auf sie zukommen kann. Wir hatten ja eh Stress, was kannst Du da verlieren, dachten wir. Die Reicheren wollen nicht soviel riskieren. Der Stress hatte uns auch stark gemacht. Ich denke, es gibt auch deshalb die Konflikte. Die Jungen nehmen alles für selbstverständlich hin, was wir erst hatten erarbeiten müssen. Wir sind in Hip-Hop auf der Strasse hineingewachsen und nicht in der Schule.

Breakdance im Sportunterricht gibt es ja sogar.

- Das gehört nicht in den Sportunterricht. Für die Schüler ist Breakdance dann nur Sport. Es wird nicht mehr wie früher darauf geachtet, dass alle Elemente des Hip-Hop vertreten sind. Man achtet nicht mehr aufs Ganze. Bei der Battle of the Year zum Beispiel. Früher waren alle Elemente vertreten. Der Eintritt war nicht teuer, wenn jemand von weither kam, musste er gar nichts zahlen. So was geht jetzt nicht mehr. Jetzt sind da MTV und Viva. Früher kam gar nicht jeder rein in einem Jam. Es war ganz normal, dass man gebreakt hat. Heute staunen dann alle "Wow".

Warst Du an Black Tigers Birthday-Jam?

- Ja. Das waren alle Elemente vertreten. Das war der geilste Jam seit langem. Alle haben sich gekannt, sie sind wegen Black Tiger gekommen. Es war wie in einer Familie. ACE veranstaltet ab und zu im Z7 Jams. Da sind auch alle Elemente vertreten. Wir kennen uns schon lange, wir sind Nachbarn.

Zur Zeit unseres Gespräches gab es Pläne, im Rahmen der Neugestaltung des Bahnhofs SBB, eine Umgehungsstrasse über das Gelände des Jugis zu bauen. Ich spreche ihn darauf an.

- Wenn sie die Strasse bauen, landen wir auf der Strasse. Da ist Stress vorprogrammiert. Jetzt sind wir hier für uns, gut eingekesselt. Man trifft sich hier und redet, besonders im Sommer, wenn alle vom Ausland zurück sind. Alle sind zusammen, wir spielen Basketball. Jetzt wollen sie das abreissen? Das Haus ist eh das Minimale. Die Stadt hat doch Geld, nur für die Jugend wird nichts ausgegeben.

Wie ist denn die Stimmung unter den Jugendlichen?

- Schlecht. Sie denken, die da oben machen doch was sie wollen, dass Jugendliche eh nichts zu sagen haben, am kürzeren Hebel sitzen. Da oben sitzen nur alte Leute.

Zurück zu Dir. Arbeitest Du?

- Ich habe zwei Jahre als Autolackierer gearbeitet. Jetzt arbeite ich temporär als Industrielackierer.

100%?

- Ja, in zwei Schichten, um die 40 Stunden die Woche.

Nebenher gehst Du Deinen Graffiti-Aufträgen nach...

- Ja, das sind aber nicht viele. Etwa 20 im Jahr. In Deutschland bekommt man mehr. Viele können davon leben.

Hast Du schon Aufträge aus Deutschland bekommen?

- Ja, zum Beispiel einmal von Hertie in Lörrach, von der Inlineskate-Abteilung. Ich hab mich schon gefragt, ob ich nach Deutschland ziehen sollte. In der Schweiz kann man nicht vom Sprühen leben. Ich bin wegen Aufträgen viel gereist.

Wohin?

- Regelmässig bin ich in Deutschland an der Grenze: Lörrach, Weil und in München. Ab und zu bekomme ich Aufträge in Paris. Eine Hip-Hop-Organisation macht da Workshops und so eine Art Projektwochen mit Hintergrund über Hip-Hop.

Wie kommst Du an die Aufträge?

- Ich werde weiterempfohlen von Kollegen. Oder Kollegen, die einen Auftrag bekommen haben, melden sich bei mir und sagen, "Teilen wir die Kohle". Aufträge bekomme ich von grossen Firmen aus Industrie und Chemie zur Gestaltung ihrer Fassaden. Ich hab auch schon bei einer Kleidermesse von Nike gesprüht.

Sprühst Du für jede Firma?

- Ich schaue schon - wenn ich denke, der Auftrag bringt mich weiter, klar. Für Dosenfabrikanten sprühe ich gerne. Nike ist auch gut - Sport. Ich muss malen können, was ich will.

Dein Job ist nur eine Notlösung?

- Ja, man ist ja vom Geld abhängig. Ich würde es lieber anders verdienen.

Was ist Deine Nationalität?

- Ich bin Spanier der zweiten Generation.

Was machen Deine Eltern?

- Mein Vater ist Mechaniker, meine Mutter Putzfrau im Kantonsspital. Arbeiterklasse halt. Meine Schwester arbeitet in der Bank.

Wie denken deine Eltern über Deine Aktivitäten in der Hip-Hop-Szene?

- Schlecht. Sie haben schon Skizzen von mir vernichtet. Sie sagen, du bist nur geduldet in der Schweiz, du darfst nicht auffallen. Meine Mutter hat aber mal einen Graffiti von mir gesehen und fand ihn ganz schön. Aber ich leb mein Leben wie ich will. Ich war nie der Bravste (lacht).

Woher kommen deine Freunde und Kollegen?

- Von überall her (Pause). Nationalität ist egal. Ich kann zwar mit manchen Religionen wie dem Islam nichts anfangen, aber es kommt auf den Menschen an. Der Kern der Szene ist gut gemischt.

Kannst Du ein paar Nationalitäten Deines Freundeskreises aufzählen?

- Spanien, Italien, Dänemark, USA, ein paar Schweizer, aus Ex-Jugoslawien, München, Paris, Algerien.

Lebst Du gerne in Basel?

- Basel ist zu klein. Es gibt nur eine Strasse (Steinen), wo am Samstag etwas los ist.

Woran fehlt es?

- An Räumlichkeiten, um etwas selber zu machen. Früher war es noch schlimmer. Da war Mitternacht alles zu. Jetzt gibt es ja sogar Nachtbusse. 1993/94 gab es eine Ausgangssperre für Jugendliche. Besonders auf Hip-Hopper hat es die Polizei abgesehen, auf Leute mit Turnschuhen und Kapuzenpulli. Das betraf alle unter 18 nach 23 Uhr. Es gab eine Schlägerei beim Hirschi.

Du bist ja immer viel unterwegs. Wo überall?

- Auf Hip-Hop-Jams in USA, Schweden, Italien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Dänemark, Holland, Griechenland. Wenn ich Ferien hab, schaue ich: Wo geht etwas Hip-Hopmässig ab?

Das Tolle: Ich war schon oft in Städten, wo ich niemanden kannte, wo ich nicht wusste, wo ich schlafen konnte. Es ist so einfach. Du triffst Leute und sie sagen "Penn bei mir". Hip-Hop schweisst zusammen. Es ist wie in einer Familie. Ich reise billig, es sind nur Fahrtkosten. Die Städte sieht man nicht wie ein Tourist. Man lebt in ihr, man ist gleich akzeptiert. Im Januar war ich in München. Ich traf Leute aus Australien, Moskau, Jugoslawien, die alle kein Geld haben, es zusammengerafft haben, um herzureisen. Sie waren bereit, Opfer zu bringen.

Bleibt da nicht der Beruf oder die Ausbildung auf der Strecke?

- Man muss es richtig einteilen. Ich mache es neben der Arbeit. In Deutschland war ich viel mit dem Wochenendticket unterwegs.

Surfst Du auch im Internet?

- Ein paar Kollegen machen es. Ich habe es mal bei ihnen probiert. Sollte ich mir vielleicht anschaffen?

Liest Du Hip-Hop-Zeitschriften?

- Nein, das ist mehr für die Konsumenten. Ich habe einmal ein Video gedreht über Breakdance und Graffiti und es an Jams verkauft.

Was planst Du für die Zukunft?

- Ich will viel reisen und mich verbessern. 100%ig werde ich wohl nie aufhören. Hip-Hop ist ein Teil von mir. Einen Teil hab ich Jüngeren schon weitergegeben, ein Teil von mir lebt also schon weiter. Ich werde sicher mal eine Familie gründen. Aber das sieht man dann noch. Ich lebe heute und morgen. Was nutzt es, wenn ich Geld für später spare, wenn es mir heute schlecht geht?

Haben wir noch ein Thema vergessen? Was sind Gesprächsthemen in der Szene?

- Die Jungen zeigen keinen Respekt mehr. Sie kaufen sich Klamotten und meinen, sie seien cool. Besonders die Älteren regen sich auf. Polizeistress. Es läuft fast nichts mehr in der Stadt deswegen.

Aber ist das nicht arrogant den Jungen gegenüber? Brauchen sie nicht Zeit zum Reinwachsen?

- Sie meinen, sie seien die Könige. Wir hatten damals noch Respekt vor den Älteren. Heute nimmt man alles für selbstverständlich.

Ein Kollege schaltet sich ein:

- Das ist nicht nur im Hip-Hop so. Die Jungen sind alle frecher geworden. Das liegt an den Medien.

Kron:

- Sie wissen nicht über Hip-Hop Bescheid und geben nur an.

Kollege:

- Wenn man sieht, dass ein Junger etwas macht, wird er sofort akzeptiert. Nicht jedoch, wenn man sieht, dass er sich aufspielt und nur die Musik hört.

Es kann nun mal nicht jeder alles so gut.

Kron:

- Der Wille muss da sein.

Werden die Jungen denn eingeführt? Wie kommt man rein in die Szene?

Kollege:

- Das geht von selber. Man sieht Bilder von anderen und beginnt an sich zu arbeiten. Jeder, der etwas macht, ist drinnen. Entscheidend ist, ob man Hip-Hop nur aus den Medien kennt oder ob man in der Stadt ins Hip-Hop reingewachsen ist.

Kron:

- Es kommt auf den Charakter an. Was man macht, was man ist. Es gibt auch keine fixe Hierarchie. Entscheidend ist nur dein Ehrgeiz.

UPDATE:

Demnaechst im Netz: Kron's Homepage (Maerz 2004)
neueres Interview mit Kron (hiphop.de, 2002)
16 Pieces (Graffitis) von Kron


Gespräch mit Spain Kid, Sonntag, 13. Dezember 98

Spain Kid ist ein B-Boy. Das heisst, er tanzt nicht nur, sondern fühlt sich als Teil der Hip-Hop-Kultur. Er trifft gerne B-Boys in Zürich, Paris, Deutschland und den USA. Mit seinem Mischpult nimmt er neue Sounds auf. In einem Heft notiert er alles über Hip-Hop. Sein Traum? Einmal mit Hip-Hop Geld zu verdienen. Etwas selber erreichen, worauf er stolz sein kann. Ich treffe ihn im Jugendtreffpunkt Gundeli, wo er, wenn er nicht arbeiten muss, stundenlang mit Kollegen Breakdance trainiert.

Wie bist Du zum Breakdance gekommen?

- Durch Kollegen. Das ist schon lange her, seit fünf Jahren tanze ich ernsthaft. Es hat in einer Hip-Hop-Party in der Disco mit dem Ex-Namen Sox angefangen. Sie heisst heute Barock. Das war eine riesige Feier. Das hat mich fasziniert. Die feierten richtig.

So wie heute?

- Nein, die Jams in Basel sind nicht mehr so wie früher. Die Stimmung ist nicht so gut.

Was macht ein guter Jam aus?

- Die Musik ist gar nicht das Wichtigste. Die Leute müssen mitmachen, die Stimmung muss gut sein. Aktive Leute müssen auftreten.

So wie an Black-Tigers Birthday Jam? Das war ein guter Jam, oder?

- Ja.

Wie hast Du nun Breakdance gelernt? Wo hast du trainiert?

- Nach der Sox-Party habe ich sofort angefangen zu trainieren, am Lindenberg, da gibt es ein Jugendhaus. Dann im Jugendhaus Allschwil und hier im Gundeli.

Man braucht bestimmt lange, bis man das richtig kann, oder?

- Ja, Breakdance ist eine Mischung aus Capoeira, einem brasilianischen Tanz, Kunstturnen und eigenen Ideen. Er ist in den 70er-Jahren in der South Bronx entstanden. Das Wichtigste sind die eigenen Ideen. Man muss sich eine Technik überlegen und Moves, die sonst niemand hat, einen eigenen Style entwickeln. Man braucht Willen, viel Training, es muss vom Herzen kommen, Motivation, Denken für die eigenen Styles, Mut, Power, Selbstvertrauen, Technik – das alles in einem.

Tanzt Du in einer Crew?

- Ich bin in der Rocking Shoes Crew. Da war auch Mickey Laze mit dabei. Die Crew hat sich aufgelöst, jetzt bin ich das einzige Mitglied. Mein eigener Stolz ist mir wichtig. Wenn ich auf eigene Art etwas erreichen kann.

Arbeitest Du?

- Ja, bei der BaZ, als Aushilfe, ein Temporärjob.

Wie alt bist Du?

- 21 Jahre

Was machen Deine Eltern?

- Mein Vater ist arbeitslos. Meine Mutter arbeitet im Kantonsspital in der Küche. Meine Schwester ist verheiratet und ist Serviertochter in einem Restaurant.

Deine Nationalität?

- Spanisch.

Woher kommen Deine Freunde?

- Von überall her,:Asien, Spanien, Italien, Schweiz. Hip-Hop ist für alle da, obwohl die Wurzeln in Afrika sind. Hip-Hop ist gegen Gewalt und Drogen. Hip-Hop soll Menschen helfen.

Hip-Hop im Sinne der Zulu-Nation?

- Ja. Die Zulus wollen, dass man weder raucht, kifft noch Schweinefleisch isst. Im Notfall darf man Schweinefleisch essen. Es ist eine Organisation gegen Gewalt , für das Gute.

Ist Nationalität ein Thema in der Szene?

- Wie meinst Du das?

Fragst Du Leute woher sie kommen? Ist das wichtig?

- Nein, das fragt man nur aus Höflichkeit.

Ist Breakdance ein teures Hobby?

- Hobby? Es gibt Hobby-Tänzer, es gibt Breakdancer und es gibt B-Boys. Hobby Breaker tanzen nur zum Plausch, wenn sie gerade Lust haben. Breakdancer machen 100 Prozent Breakdance. B-Boys sind hauptsächlich Breakdancer, aber interessieren sich noch für andere Teile der Hip-Hop-Kultur. Heutzutage werden alle Breakers B-Boys genannt. Tanzen ist für mich ein Job und kein Hobby.

Du siehst Dich als B-Boy?

- Ja, ich interessiere mich für alles, was mit Hip-Hop zu tun hat. Ich sammele Platten, nehme neue Sounds auf und so weiter.

Hast Du ein Mischpult?

- Ich habe zwei Plattenspieler und ein Mischpult.

Was kostet denn so ein Mischpult?

- 400 bis 600 Franken mindestens.

Was ist Hip-Hop? Was fällt Dir zu Hip-Hop ein?

- Hip-Hop ist ein Leben. Hip-Hop ist eine wichtige, interessante, spannende und wertvolle Kunst-Kultur. Zum Hip-Hop gehört das Sprayen. In Basel gibt es sehr viele gute Sprayer. Dann das Rappen, MCing. Das ist fantastisch. Sie rappen über viele wichtige Themen: über arme Leute oder Hip-Hop selbst zum Beispiel. Zum Hip-Hop gehören dann noch die DJs und das Breakdance.

Wer ist ein Hip-Hopper?

- Hip-Hopper ist eigentlich ein Medienausdruck. Es gibt Real und normale Hip-Hopper. Real Hip-Hopper nehmen die Hip-Hop-Kultur ernst und arbeiten kreativ mit. Wichtig ist, dass man aktiv ist, egal ob man gut oder schlecht ist. Die normalen Hip-Hopper mögen Hip-Hop hautsächlich wegen der Musik, sind aber nicht aktiv.

Auf die Bemerkung eines Kollegen, nur die Aktiven seien Hip-Hopper, da Hip-Hop für die anderen nur Mode sei, entgegnet Spain Kid:

- Das soll jeder für sich klären. Man sollte diese Leute trotzdem respektieren.

Reden wir kurz über die Stadt Basel. Wo geht Ihr hin? Was macht Ihr in der Stadt?

Kollege:

- Überall hin, wo nicht Techno oder House läuft.

Spain Kid:

- Die Musik sollte man aber trotzdem respektieren. Alles ist eine Familie. Hip-Hop ist aus anderen Musikarten entstanden: Jazz, Soul, Funk etc.

Was vermisst Du in Basel? Gibt es genug für Jugendliche?

- Ja, es gibt den Jugendtreffpunkt Gundeli. Ich reise gerne und trainiere mit B-Boys aus anderen Städten und Ländern. Aus Zürich, Paris, USA und Deutschland etc. Sonst gehe ich mit Kollegen etwas trinken, an kleine Parties.

Lebst Du denn gerne hier?

- Ich bin zufrieden, auch wenn ich Basel manchmal langweilig finde. Ich weiss nicht, was ich ohne Hip-Hop sonst machen würde.

Was machst Du sonst in Deiner Freizeit?

- Ich trainiere. Wenn es offen ist und ich nicht arbeiten muss, trainiere ich immer hier.

Wer ist Dein Vorbild?

- Storm. Er ist total gut und auch nett. Ein vorbildlicher Tänzer.

Er ist ja für viele Breakdancer Vorbild. Wie gut kennst Du ihn?

- Nicht sehr gut, aber er war schon mal hier.

Es hat nur wenige Frauen in der Szene ...

- In Basel, ja, aber in den USA gibt es sehr viele gute Frauen. Sogar bei der Battle of the Year (in Deutschland) waren einige Frauen. Es freut mich, wenn Frauen mitmachen. Sie können es nämlich auch. Ich trainiere viel mit Mickey Laze zusammen. Sie ist das einzige richtige B-Girl in Basel. Sie macht viel und nimmt Hip-Hop wirklich ernst.

PS: Aus Victors Heft

- Warum tanze ich?

- Um die Hip-Hop-Kultur zu ehren. Mich fasziniert dieser Tanz, macht Spass. So halte ich mich auch von verschiedenen Drogen fern. Beim Tanzen wird es mir nie langweilig.


Gespräch mit A-Man und MC Poet (tafs) am 17. Dezember 1998

Sie waren auf vielen Jams zu sehen und haben schon zwei Platten veröffentlicht. Die beiden MCs beweisen: 1. Hip-Hop lebt nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. 2. Nicht nur arbeitslose Ausländer, sondern auch Schweizer Versicherungs-Angestellte können rappen.

MC Poet holt mich von der Waldenburgbahn ab und führt mich zu ihrem Übungsraum - zu einem Fabrikgebäude, kein leeres! Tagsüber werden hier Dieselmotoren hergestellt. Wir gehen die Treppen hoch. Einer der vielen Türen führt in einen nicht ganz gewöhnlichen Büroraum. Schummrige Beleuchtung begrüsst mich, Graffiti an den Wänden und Zeitungsausschnitte mit der besprühten Waldenburgbahn ("Kunstwerk für einen Tag"), eine Sitzecke mit Fernseher, hunderte (tausende?) von Platten und ein gigantisches Mischpult mit fünf Plattenspielern.

Wie seid Ihr an diesen genialen Raum gekommen?

PoetPoet:

- Wir haben alle Firmen angerufen und sie gefragt, ob sie ein Proberaum für uns haben.

Und das klappt hier?

- Das klappt schon seit zwei Jahren, wir sind 15-20 Leute (WB-Massive). Die Sachen hier haben wir alle selber zusammengetragen, jeder was er hatte. Wir haben auch eine Gemeinschaftskasse, für Miete und Anschaffungen zum Beispiel.

Klappt das, weil Ihr etwas älter geworden seid?

- Nein, weil wir eine Gemeinschaft sind.

A-Man A-Man:

- Wir haben unser Ding gefunden. Viele Junge haben Mühe damit, dass in dem Kaff so wenig passiert. Wir sind hier so eingeschränkt. Noch mehr als früher, als es in der Schule noch Discos gab. Die Schule hat auch Musicals arrangiert. Bei den Discos habe ich gerappt, das war geil! Zu der Zeit haben viele Junge gesungen, da gab es viele Bands. Jetzt gibt es weder Musicals noch Discos.

Wie ging es hier eigentlich mit Hip-Hop los?

Poet:

- 1990 tauchten die ersten Graffitis auf - in Hölstein und Langenbruck, die erste Crew OBDP (one ball dog posse). Man traf sich im Jugendraum Langenbruck, wir fanden einen Übungsraum, zwei kleine Räume in einer Hütte vom Elektrizitätswerk Hölstein. Da haben wir gefestet mit viel Freestyle. Später mussten wir die Lokalität wegen Lärmbelästigung wechseln.

Und wie seid Ihr zum Hip-Hop gekommen?

A-Man:

- Ich war so zwischen zehn und zwölf Jahre alt, als ich angefangen hab. Am Anfang hat mir nur die Musik gefallen, mit der Zeit beschäftigte ich mich auch mit der HipHop-Kultur. Meine Kollegen MC Shape (von Wrecked Mob) und Poet habe ich auf einem Open-air kennen gelernt, TAZ 1996 in Liestal. Über Shape hat er DJ Dinos getroffen, der in seinem Wettinger Homestudio Beats produziert.

Ich weiss noch, ich war der einzige in der Schule, der sich für Hip-Hop interessierte. Ich hab Breakern im Fernsehen nachgeturnt. Eigentlich hat es in diesem Raum richtig angefangen. Da habe ich rappen gelernt und habe mich mit Poet und Shape getroffen. Ja, nach und nach hab ich mich richtig in Rap verliebt. Es wurde etwas, ich weiss nicht, etwas Heiliges.

Poet:

- Ja, damals kamst du rein und konntest schon rappen (lacht)! Ich habe vorher ein paar andere rappen gesehen in Luzern und Basel und dachte "Geil!". 1995 habe ich in einer Band mit Schulkollegen geübt. Da kam Feeling rüber! Angefangen hat es bei mir 1992, das war als MC Black Tiger als Erster auf Schweizerdeutsch gerappt hat.

Und tafs?

A-Man:

- Wie gesagt, wir sind 1996 zusammengekommen, unser erster Auftritt war im November 96 in Wohlen. Da hiessen wir noch Tazulu…

… ah, wegen Zulu-Nation…

- Ja, dann kamen wir auf Tafs(quad), squad ist so was wie Crew oder Posse - Rapgruppe. T steht für taz, A für A-Man.

Und erinnert auch an tough?

- Genau. Unsere nächsten Auftritte hat uns Black Tiger im Sommercasino verschafft.

Was macht Ihr sonst? Jobs? Schule?

Poet:

- Ich arbeite in einer Versicherung, in der Risiko-Prüfung für Unternehmen, Vollzeit, ausserdem noch in unserer Plattenfirma WB-Tal-Records, die ich für die Veröffentlichung meiner eigenen Produktionen gegründet habe.

A-Man:

- Ich bin im zweiten Lehrjahr Zimmermann. In einem Jahr bin ich fertig.

Wie findet ihr Basel - eine attraktive Stadt?

Poet:

- Hm, an der unteren Grenze, das Atlantis ist alteingesessen, bietet wenig Neues. Die Kuppel wurde zur Standard-Disco. Steinen mag ich nicht. Es gibt wenig Parties, wo gerappt wird. Wenn, dann bin ich in der Kuppel, donnerstags, wenn es Funk gibt. Im Hirschi, in der Kaserne oder im Sommercasino gibt es interessante Konzerte.

A-Man:

- Basel ist weit weg. Ich schau am liebsten in ACE's Plattenladen rein oder ins Roxy.

Was vermisst Ihr in Basel?

Poet:

- Einen Club mit gutem Sound…

A-Man:

- …wo man 'duurekeie' kann.

Wie ist das. Rap ist nicht automatisch Hip-Hop, oder?

Poet:

- Nein, vor allem nicht der Rap aus der Retorte, der in den Charts ist, wo Leute, die keine Ahnung von Hip-Hop haben, wild zusammengewürfelt werden, nur von Liebe rappen und nur in die Charts wollen. Hip-Hop ist eine Kultur, und Rap nur ein Teil davon (zeichnet den "Hip-Hop-Mengenkreis" auf: ein Kreis mit viergleich grossen Teilen: DJ-ing, Graffiti, Breakdance und Rap).

Das neueste Album von Sens Unik ist ja recht kommerziell.

A-Man:

- Bei ihnen weiss man aber, was dahintersteckt.

Poet:

- Eben. Nicht nur erzählen, machen! Darum geht es. Sie haben die richtige Einstellung. Dicke Jacken und Boots reichen nicht.

Ihr seid ja schon auf zwei Platten vertreten.

- Ja, eine haben wir zusammen mit Kollegen aus Chur und Luzern und Zug zusammen gemacht. Wir wollten zeigen, dass die verschiedenen Dialekte zusammenpassen. Die andere ist eine EP mit u.a. Kalmoo, Black Tiger und Shape. Zuvor veröffentlichten Dinos und ich im 97 die "Exklusiv Maxi", die heute Kultstatus hat.

Worüber rappt Ihr da?

- Die Krieger kommen zurück in die Vorstädte - Respekt für die Old School. Nicht einseitig sondern vielseitig interessiert sein usw. In Raps reden wir über uns - auf Dialekt, damit man uns besser versteht.

Da habt Ihr grossen Einfluss auf die anderen.

- MCs sagen, was sie von anderen erwarten. MCs sagen auch, was Hip-Hop ist. Es geht aber nicht um die Message, sondern um Leute zum Mitdenken zu bewegen.

Wie sind die Nationalitäten hier so verteilt? Ihr seid ja beide Schweizer.

- Unter den MCs gibt es sehr viele Schweizer, unter den Tänzern sind eigentlich fast nur Ausländer. Unter den Sprühern gibt es viel Austausch, da ist es Multikulti, bei den DJs auch. Shape z.B. ist ein Drittel Deutscher, Schweizer und Sizilianer.

Man liest, es seien nur Ausländer in der Hip-Hop-Szene…

A-Man:

- Das stimmt nicht, wir sind eine neue Generation.

Wisst Ihr was? Nach einem Interview kam es mir vor, Hip-Hop sei eine Art Religion mit dem Jam als Gottesdienst und dem Rap als Predigt. Hip-Hop sagt dir, was richtig und falsch ist, gibt eine Perspektive fürs Leben mit. Jeder ist mit der HipHop-Ideologie vertraut und kennt die Geschichte.

"Hier, hör", sagt A-Man und legt eine Platte von SPAX auf: ein Rap über Hip-Hop als Religion mit dem Jam als Gottesdienst - ich war verblüfft!

Da ich schon mal in der Nähe des Mischpultes stehe, meint DJ Tim, ich solle mich doch auch in der Kunst versuchen. "Ja, du kannst dazu jede Platte nehmen", meint er. "Die Nadel ist auf beiden Seiten geschliffen. Gefällt Dir Reggae?", fragt er mich und legt diese Beats unter den Hip-Hop-Sound.

Man reguliert die Balance (rechts-links-Turntable) und mischt die Beats. Manche Sounds sind mit Klebestreifen auf der Platte markiert. Man muss genau neben dem Kleber aufsetzen, dann kommt der gewünschte Klang. Ich probiere es. Hey, macht Spass!! Genial! Zum Scratchen fehlt mir aber noch (viel!) Übung! (und mehr Schwung!) Poet und A-Man rappen noch schnell ein paar Freestyles. Wechseln sich ab - es wird ein richtiger Dialog - oft ohne viel Sinn, denn man hat nicht viel Zeit zum Überlegen. Von meinen Misstönen am Mischpult lassen sie sich jedenfalls nicht abbringen!

UPDATE:

Tafs hat inzwischen eine eigene Seite im Netz »zu Tafs Homepage
Neueres Interview mit tafs auf hiphop.de
Review ihres Albums TAFS - 44 (aightgenossen.ch, 27.10.03)
Newsuebersicht tafs von aightgenossen


Gespräch mit Mickey Laze am 10. Januar 1999 im Jugi Gundeli

In Basel sind einige Frauen in der Hip-Hop-Szene aktiv. Auf Mickey Laze bin ich anlässlich eines Mädchen-Aktions-Tages in Lörrach aufmerksam geworden. Dort gab Mickey Kurse in Breakdance. Ich traf mich mit ihr im Jugi Gundeli.

Du tanzt, gibst Breakdance-Kurse... arbeitest Du noch nebenher?

- Nein, nicht fest. Es gibt so viele Veranstaltungen im Ausland. Ich kann dann schlecht sagen, ich muss mal schnell in die USA (lacht).

Breakdance und Hip-Hop sind Dir also wichtiger als irgendein Job...

- Ja. Ich bin vier Jahre auf die Handelsschule gegangen, mir fehlte nur noch ein Jahr. Aber ich habe die Schule nicht so wichtig genommen (lacht). Das ist wie eine Sucht - ähnlich wie beim Ballett. Jetzt...

...bereust Du es?

- Eigentlich schon, obwohl es für mich okay war. Aber die Schule sollte zuerst kommen, das würde ich auch anderen raten.

Wann hast Du angefangen?

- Auf der Realschule, da haben Kollegen getanzt. Anfangs habe ich nur zugeschaut. Hip-Hop wurde ein Lebensstil. Schule fand ich langweilig, immer derselbe Ablauf, ich hatte kein Ziel.

Viele sind über Kollegen zum Hip-Hop gekommen. War es also zufällig? Wärst Du also mit anderen Kollegen vielleicht eine ... Tennisspielerin geworden oder so?

- Nein. (Pause) Ich habe viel getanzt, Modern Dance zum Beispiel und war schon als Vierjährige im Ballett. Ich mache viel Sport, spiele auch Basketball. Am Anfang habe ich auch gesprayt. Ich mache es nicht mehr. Graffiti ist mir zu hart. Was man da alles riskiert! Für seine Ehre muss man ja auch illegal sprühen. Wenn man kein Geld hat und erwischt wird und dann zahlen muss...

Bist Du mal erwischt worden?

- Nein, aber ein Freund wurde geschnappt.

Wie war das nun als Frau mit Breakdance anzufangen? Warst Du die einzige Frau?

- Erst war es nur Spass. Dann habe ich eine aus Zürich kennengelernt, sie hat Breakdance ganz seriös gemacht. Das hat mich beeindruckt.

Wie hast Du sie kennengelernt?

- Über Kollegen. Sie trainierte im Dynamo (Jugi in ZH).

Ich war letztes Jahr im Urban Skillz, da habe ich ein paar Frauen gesehen, die getanzt haben.

- Ja, in Zürich gibt es mehr Frauen, die breakdancen. Jetzt trauen sie sich (begeistert). Das Problem bei Mädchen ist, dass sie allein nicht leicht in ein Jugendhaus kommen. Es ist leichter in einer Gruppe mit Jungs. Viele Mädchen, die tanzen, hatten einen Freund, der breakt.

Und Du warst in einer Gruppe mit Jungs.

- Ja. Sie hatten immer gesagt, "Mickey, mach‚s doch auch einmal. Du kannst es auch."

Ah ja?

- Hm, es gibt schon viele Jungs, die es Frauen nicht zutrauen. Aber viele Jungs können in der Akrobatik gar nicht mit den Frauen mithalten, wie in Deutschland.

Ja?

- Kerstin zum Beispiel, sie ist verheiratet, hat drei Kinder, sie macht richtige Power Moves, sehr akrobatisch. Sie hat Style! Sehr wichtig ist der Background. Sie hat Judo und Kunstturnen gemacht.

Was ist typisch für die Basler Szene?

- Da muss man unterscheiden. Früher war schon gut, wer bei einem Jam im Kreis tanzte. Heute ist das Niveau höher, man muss wirklich gut sein. Früher reichte es, wenn man in der Schweiz auftrat, und es war schon toll, wenn man schon in Deutschland oder in Frankreich war. Heute ist normal, dass man überall hingeht, für ein Wochenende mal in die USA oder nach Japan fliegt.

Wirklich? Wie finanziert Ihr das? Arbeitet Ihr alle?

- Ja, viele. Aber nur temporär, bis man das Geld zusammen hat. Ich bin auch so glücklich, auch wenn ich mal für eine Zeit kein Geld habe. Früher gab es keine Schule, in der man unterrichten konnte, jetzt wird es Business. Ich unterrichte meist in Jugendhäusern, ich lehre nicht nur Breakdance, sondern erzähle auch von der Hip-Hop-Kultur. Sie sind dann ganz fasziniert - Wow das gibt es alles! - Die meisten sind immer noch dabei. Früher war die Szene verkrampft und verschlossen, heute ist sie offener.

Gibt es viele Übungsräume in Basel?

- Es hat schon genug, nur muss man die besten Böden haben. Der Traum von vielen ist, ein eigenes Studio zu haben. Ich trainiere meist hier. Ich habe noch viele Kontakte in der Schweiz, wo ich trainieren kann, auch bei einer Freundin in Zürich.

Und in Japan??

- Nein, da war ich noch nicht, ich habe es aber vor!

Wo warst Du schon?

- In New York, L.A., San Diego, Paris, Frankfurt...

Was ist Deine Nationalität?

- Ich bin Doppelbürgerin Schweiz-Philippinen

Wann bist Du in die Schweiz gekommen?

- Ich war elf. Als ich acht, neun Jahr alt war, habe ich den USA gewohnt. Da haben wir Verwandte.

Aha, deshalb... Als ich nur Deinen Anrufbeantworter kannte, dachte ich, Du seist Amerikanerin. Da sprichst Du ja in reinem American English.

- Jaja, auf den Philippinen spricht man ja auch Englisch. Und in der Hip-Hop-Szene muss man ohnehin Englisch können.

Was machen Deine Eltern?

- Meine Mutter war mit einem Schweizer verheiratet, sie sind jetzt geschieden. Sie lebt glücklich hier. Mein Vater lebt in den USA.

Was mir auffällt: Die Schweizer haben Angst vor Neuem. Wir (Hip-Hop-Szene) wollen sie überzeugen, dass Du das machen kannst, was Du willst.

Wenn Du an Deine Jugendzeit in der Schweiz denkst. Was hat Dich geprägt? Was ist Dir aufgefallen?

- Man hat hier sehr viele Chancen, man muss sie nur nutzen.

Mit welchen Ländern vergleichst Du da?

- Mit den USA. Da haben sie nicht so viele Möglichkeiten. Sie können dort nicht so viel herumreisen wie wir. Wenn man auf einer Party ist, egal ob in New York oder sonstwo in den USA, Schweizer triffst Du überall. Auf einem Jam in New York habe ich 50 Schweizer getroffen. Die DJs haben die Schweizer extra im Mikro begrüsst. Oder auch in Paris. Da merkt man, wir haben Geld dafür, was wir wollen.

Wenn man aktiv ist in der HipHip-Szene, lernt man so viele Leute kennen (schwärmerisch), es ist egal woher du kommst, es zählt nur, was du machst. Die Szene ist ja so international. Im Internet kannst Du herumsurfen ... nach Australien oder Hawaii und sehen, wow! (euforisch), die machen das auch, du bist nicht allein. Da bekomme ich richtig Gänsehaut! Das gibt ein gutes Gefühl.

Nationalität ist also kein Thema im Hip-Hop?

- Nein, nur Leistung und Charakter zählen. Allgemein soll man nicht einspurig sein in den Dingen, die man macht. Die ersten Fragen, wenn man sich trifft, sind "Wie lange tanzt Du schon? Wo wohnst Du?" Nationalität ist nicht wichtig.

Woher kommen Deine Freunde und Kollegen?

- Aus Spanien, Thailand, Türkei, Italien, Ungarn, Japan, Philippinen - hier gibt es viele Mischlinge...

...und Schweizer?

- Unter den Tänzern gibt es wenige Schweizer, sonst in der Szene schon.

Ja, das ist auffällig. Bei den MCs scheinen Schweizer zu dominieren...

- Das hat mit der Sprache zu tun. Man muss gut sein.

Wohnst Du gerne in Basel?

- Basel ist ganz gut zum Leben, ganz gemütlich. Es läuft nur wenig, man muss auswärts. Es ist nicht zu gross und nicht zu klein. Es macht mir gar nichts, dass nicht so viel läuft. Ich fahre lieber weg als in einer hektischen Grossstadt leben zu müssen. Ich geniesse es so. Berlin zum Beispiel ist mir zu gross. San Francisco kann ich mir schon eher vorstellen.

Was machst Du in Deiner Freizeit?

- Oh, dafür bleibt kaum Zeit. Ich würde gerne mehr Sprachen lernen, aber....

Wie finanzierst Du Dich?

- Ich gebe Hip-Hop-Kurse und arbeite temporär, mal an der Kasse, alles, was den Körper nicht beansprucht.

Was sind Deine Pläne?

- Sprachen lernen, eine Ausbildung. Ich muss an meine Zukunft denken. Man muss ein zweites Standbein haben, es ist nicht gut, einseitig zu sein... Ich würde gerne Bibliothekarin werden.

Ich mache ein erstauntes Gesicht.

- Ich weiss, das passt irgendwie gar nicht zu mir. Ich würde es aber gerne machen, ich lese gerne. Nur muss man dafür auf eine Privatschule in Bern oder Zürich gehen.

Zum Abschluss: Gibt es noch ein wichtiges Thema, das wir noch nicht angesprochen haben? Gesprächsthemen in der Szene?

- Ein Insider-Thema: Die Leute schauen nur auf die Leistung und nicht auf den Charakter. Was Du bist, das Innere, das ist doch Hip-Hop. Viele sind bekümmert über die Entwicklung.

Welche Leute denken so?

- Zum Beispiel Veranstalter, die Leute für ein Jam organisieren. Sie nehmen Leute, die gut sind, aber keinen guten Charakter haben und nicht Bescheid wissen über Hip-Hop und seine Geschichte. Dafür ist die Zulu-Nation da: damit Leute nicht verblinden. Viele benutzen Hip-Hop nur dazu, um Geld zu machen, tanzen nur wegen fame und damit ihr Name auf dem Flyer steht. Das ist schade, so entstehen Vorurteile über die ganze Szene.

Aber im Hip-Hop geht es doch um fame und respect.

- Der Unterschied ist: Mache ich es mit Spass oder verbissen wie ein Roboter?


Gespräch mit Chéjah (ehemals Luana) am 26. März 1999

Frauen gibt es auch unter den Rappern - allen voran Chéjah - oder Luana, wie sie früher hiess. Sie ist von Anfang an dabei und die erste weibliche MC Basels. Weil sie auch seit jeher singt (R&B, Gospel) versteht sie sich als MV (Mistress of Voice) und hat in vielen Projekten mitgewirkt. Ausser auf ihrem Solo-Album "SerioSistaS" (1996, Fun Key) ist sie auf 14 weiteren CDs zu finden. Als Gastsängerin der Formation Rapublic hat sie 1998 mit den Titeln "Ti Amo" und "Stay" Gold in Österreich eingespielt. Auf der Bühne stand sie schon mit Hip-Hop-Grössen wie Afrika Bambaata, Run DMC und Grandmaster Flash. Sie hat in Filmen mitgespielt wie Babylon II und Eurocops sowie in Musicals wie der Swiss Musical Night.

Ich treffe mich mit ihr an einem Freitag nachmittag im Mister Wong in der Steinenvorstadt. Sie wirkte sehr nachdenklich. Nachdenklich hat sie vor allem das Big Business gemacht, dessen Teil sie geworden ist.

Chéjah- Durch das Business änderst du dich. Mehr als 15 Jahre ups and downs ändern deinen Charakter, deine Ansichten. Foxy Brown sagte mal, sie könne nicht mehr sich selbst sein durch den Druck von aussen, was ich gut verstehen kann. Es ist auch so, dass man nur deshalb geliebt wird, weil man bekannt ist. Alle sagen "Hi Luana" und mögen mich als "Luana und trauen sich vielleicht nicht näher ranzukommen, um zu entdecken, dass auch ich nur ein Mensch bin. Bei anderen musste ich Neid entdecken.

Beide Dinge haben mich früher sehr verletzt. Auch die Medien können einen durch Lügen, falsche Interpretationen und destruktiver Kritik seelisch zerstören und auch das habe ich hautnah erlebt.

Was da noch geschah in meiner Laufbahn als Hip-Hop/R&B-Künstlerin ist, dass ich nach meiner "SerioSistas"-Tour die Nase echt voll vom Business hatte und mit den Nerven ziemlich fertig war.

Der Grund lag darin, dass ich erstens einige Fehlentscheide traf, was die Zusammenarbeit mit internen Leuten betraf. Zweitens lemte ich, was Ungerechtigkeit im Business und "Mind Control" (=Manipulation) von aussen heisst. Du meinst zwar, alle möchten dir helfen aus Gutmütigkeit. Doch ich musste bald feststellen, dass ich extrem geistig manipuliert worden war, damit andere ihren Profit daraus ziehen konnten. Ich hatte keine Kraft mehr und fühlte mich ausgelaugt und leer. Doch wie beim Boxkampf darf man es sich nicht erlauben, bis zehn liegenzubleiben.

Ich entschied mich aufzustehen und eine Reise zu unternehmen; die Reise ins Selbst. Für die Musik ist man viel unterwegs, aber die letztere Reise hat mich mit lebenswichtigen Regeln geprägt. Heute bin ich vorsichtiger und konsultiere zuerst meinen "himmlischen" und dann meine "irdischen" Berater, bevor ich etwas entscheide. Ich tue nicht unbedingt immer das, was mein Ego will oder was andern passt, sondern das, was meines Erachtens gut und richtig ist, was mich überzeugt und auf meinem eigenen Weg ein Stück weiterbringt. Gerade die steilsten und steinigsten Teile davon lehren mich am meisten.

All dies sage ich nicht, um Mitleid zu erregen. Dies ist die Wahrheit von dem was geschehen ist, meine Geschichte eben. Und die geht genau hier weiter. In die richtige Richtung. Mit Namenswechsel, weil dies ein abgeschlossener Abschnitt meines Lebens darstellt. Praise the Lord.

Hat sich Deine Richtung durch Religion geändert?

- Nein. Durch Spiritualität. Viele Hip-Hopper sind spirituell, man muss jedoch aufpassen: Auch Dinge des Teufels sind "spirituell". Was ich rnit "Spiritualität' meine, ist die Verbindung mit Gott, dem Vater der Wahrheit. Der Teufel ist der Vater der Lüge und er kommt nur, um zu stehlen, zu morden und zu zerstören. Der Glaube lehrt Ehrfurcht und Respekt vor dem Schöpfer und somit auch vor all dem was er geschaffen hat. Du weisst, was Dein Weg ist. Jesus hat auch Sachen gemacht, ohne Rücksicht darauf, ob die Leute es mögen. Er hat sein Ding durchgezogen, hat sich nicht beeinflussen lassen. Er ist sogar für andere gestorben. Aber er hat immer Liebe gezeigt.

Rapper dissen einander aber häufig.

- Dissen ist für mich auch Kritik. Kritik an dem was ich nicht mag, was ich ändern möchte. Konstruktive Kritik ist wichtiger als destruktive. Und das beginnt bereits im Kopf Frauen wurden sehr oft destruktiv gedisst. Das zerstört auch das Selbstbewusstsein. Auch Frauen besitzen Talente für die Hip-Hop Kultur, haben aber nicht den Mut, sie auszuüben.

Die Wurzel dieses Problems ist die Manipulation durch Medien (Werbung, Videos, Filme, Zeitschriften ... ), wo Frauen grösstenteils als Sexsymbole, Mannequins, Schlampen und Mitläuferinnen gezeigt werden. Frauen, Ihr seid weder das eine, noch das andere. Ihr seid die "Krone des Königs", das Pünktchen auf dem "I"! Go on with your bad self in dignity.

Die Homies haben auch Verantwortung gegenüber den Frauen, damit sie (die Frauen) ihre Würde nicht verlieren. Die Talente im Hip-Hop sind ein Geschenk. Use it for the good and the better. Früher fluchte ich auch in meinen Texten, und meine Tänzerinnen gingen im 1991 im BH auf die Bühne usw. Das war alles rebellisch gemeint, nützt aber eigentlich niemandem was.

Du engagierst Dich auch geme. Da war zum Beispiel das Wake Up-Projekt.

- Ich habe viele Abstürze gesehen. Der Körper ist der Tempel des Geistes. Wir haben die Aufgabe, uns um unseren Körper und unseren Geist zu kümmern und darauf aufzupassen, nicht uns selbst zu zerstören. Dies wollte ich mit meinen Texten mitteilen. Während der ganzen Aktion waren wir viel in Kontakt mit Jugendlichen und konnten so über Suchtprobleme reden. Das war das Zielpublikum, das wir erreichen wollten. Mir ist es wichtig, dass ich meine Arbeit, meine Freizeit, Essen und Trinken geniesse, dann brauche ich weder Betäubungs- noch Aufputschmittel.

Es ist ja schwierig, mit solchen Aktionen etwas zu bewirken.

- Wir haben aber bemerkt, dass wir die Schüler zum Nachdenken gebracht haben. In allem haben wir ca. 23'000 Leute angesprochen, darunter auch Jugendliche, die heute reimen. Einige haben sich gemeldet und gemeint: Seit dem Wake Up würden sie sich auch mit Rap beschäftigen. Besser als abstürzen.

Du kennst die Hip-Hop-Szene in Basel von Anfang an. Kannst Du mir etwas über die Geschichte erzählen?

- Viele sagen, früher sei es besser gewesen. Finde ich nicht. Damals wünschten wir uns doch das, was heute läuft! All die Parties, die Klamotten, die vielen Kontakte europaweit!

Wir krampften uns eins ab, um nach New York zu fliegen, weil wir hier keine Adidas Superstar fanden, oder um die Graffiti-Bücher zu kaufen, weil's hier 1986 noch nichts gab. Wir waren wenige Homies und Flygirls; deshalb war es auch ein wenig einfacher. Wir hatten den Überblick wer wer war und wir hatten unseren Spass. Aber ich lebe nicht in der Vergangenheit, ich geniesse den Augenblick. Ich bin nicht so 'ne "Früher als wir jung waren"-Tante!

Von der Old School gibt es fast niemanden mehr; Dest, Eloy, Save&Senyo, Skelt! sind noch aktiv. Früher meinten wir, wir müssten den Überblick haben über die ganze Szene, heute schaue ich lieber, dass ich den Überblick habe über mich selbst und das was ich tue. Um dir "Geschichten aus der Old School" zu erzählen, bräuchten wir mehr Zeit und vielleicht auch mehr Interviewpartner aus der Zeit.

Wie bist Du ins Hip-Hop-Milieu gekommen?

- Ich habe erst mit 17 Jahren raus dürfen. In der Schule habe ich viel gezeichnet und geschrieben. Den Film Wild Style habe ich auch gesehen. Da war ich 15 Jahre alt. Das Tanzen, Reimen und Singen, DJ-ing und Malen hat mich so fasziniert. Alle Elemente waren vertreten - ein Kultfilm! Mir hat besonders Lady Pink imponiert, so sehr, dass ich sie angerufen habe.

Oh, wie das?

- Den Namen kannte ich durch den Film. Ich fragte nach ihr in der New York-Auskunft. Jetzt findet man sie nicht mehr im Telefonbuch.

Ja, ich hätte nie gedacht, dass die Szene einmal so gross wird. Wenn man das gewusst hätte, in der harten Bronx! Da hätten die Erfinder ein Patent drauf genommen! Im Stil: Reimst Du? Sprühst Du? Breakst Du? Mixt Du? Dann musst Du bezahlen! (lacht)

Hast Du gebreakt?

- Jein. Nur so zum Spass. Aber gesprüht habe ich 'ne zeitlang. Damit musste ich jedoch aufhören. Ich sprühte draussen und drinnen. Von den Dämpfen kriegte ich Kopfschmerzen. Ich hatte ein kleines Atelier, wo ich malen konnte. Ich stellte mit anderen Frauen aus. Ich hörte aus diversen Gründen auf; Gesundheit, Umwelt, usw. Aber ich werde hin und wieder einmal ein Bild malen.

Du bist Zulu Queen der Schweiz. Was heisst das? Verantwortung für Hip-Hop?

- Nein. Wie ich schon sagte, ist es nicht mein Ding Überblick über die Szene zu haben, oder gar Kontrolle auszuüben. Als erstes steht für mich "Knowledge of Self'. Die Universal Zulu Nation steht nicht einfach nur für Hip-Hop. Sie steht für: Love, Peace, Unity, Having Fun, Knowledge, Wisdom, Understanding, Overcoming the Negative to the Positive, Freedom, Justice, Equality, Work, Respect, Economics, Mathematics, Science, Life, Truths, Facts, Faith.

Die Universal Zulu Nation wurde 1973 von Afrika Bambaataa in der Bronx gegründet. Eigentlich wuchs die Organisation mit der ersten Generation der New Yorker Hip-Hopper und Bambaataa war ja auch Teil davon, als DJ und MC. Dadurch ist Zulu Nation mit Hip-Hop verbunden, da beides das Ziel hat, Jugendliche von schlechten Einflüssen fernzuhalten. Vor schlechten Einflüssen kann sich aber niemand schützen, jedoch wir können lernen, wie wir mit ihnen umgehen können. Auch Aussenstehende können Zulus sein, solange die Philosophie verstanden und unterstützt wird. Weitere Infos im Intemet.

Meine Verantwortung in der Zulu Nation sind meine Lyrix, also meine "explicit lyrix"-freien Texte und meine Musik. Mein Message. Ich singe/reime über das Leben, die Hoffnung. Bei Konzerten nehme ich auch immer wieder Zulu-Tänzer oder MC's mit. Aber auch Nicht-Zulus.

Wenn ich Zeit habe, darf - und das ist das Wichtige - nicht muss, sondern darf ich auch etwas organisieren, wie eine Party, einen Workshop oder was anderes. Wir müssen doch eh so viel auf dieser Welt in dieser Gesellschaft, ich mag keinen Druck. Wenn ich was mache, dann weil es aus meinem Herzen kommt.

1998 war ich in Los Angeles für DRS3. Drei Tage wohnte ich in einem Hotel. Die restlichen sieben Tage war ich bei Prince Whipper Whip aus Wild Style. Auch er ist Zulu. Ich kannte ihn eigentlich nicht. Aber durch andere Zulus triffst Du wieder andere usw.

Die Zulu Nation ist ein Netzwerk, das über die ganze Welt verbreitet ist bis nach Japan, Südafrika, Südamerika usw. Ich hatte zweimal Gäste aus Kapstadt. Einmal den "Zulu-Philosophen" "King Jamo" (sein Vater ist ein echter Zulu) und dann Cräig, einen Sprüher, der sich nichts sehnlicher wünschte, als am Zürcher "Battle of the Year'99" (Breakdance-Contest) als Zuschauer dabei zu sein. Und das hatte auch geklappt. Ich bin froh, wenn ich weiss, ich gehe in eine fremde Stadt und kann bei Zulus bleiben; und so ist es sicher auch umgekehrt. Aber Achtung! Keine Manieren, kein Platz. Bei mir auf jeden Fall nicht.

Ich bin nicht die einzige Zulu Queen. Da ist noch Zulu Queen Patricia aus Neuchatel.

Es gibt aber auch strenge Regeln?

- Die Regeln sind einfach: Die, die Gott gegeben hat. Keine Suchtmittel, keine Gewalt (nur zur Selbstverteidigung). Und all das, was ich eben schon erklärt habe. Viele meinen, man müsse sich nun von einem Tag auf den anderen ändern, das ist aber nicht der Sinn. Sondern von unseren Siegen und Niederlagen zu lernen, weiser zu werden und stärker. Und das jeden Tag ein Stückchen, um dann das Gelernte weiterzugeben. Zulus sind für mich die Scouts (Pfadfinder) des Hip-Hops. Als Teenager kämpfst Du für die "Anerkennung von aussen"; als Erwachsener kämpfst Du um Gerechtigkeit für Dich und für andere, den Frieden in Dir und um Dich herum.

Ich bin früher für Hip-Hop viel mit den Homies losgezogen, fast nie mit den Frauen. Sie tratschten mir einfach zuviel von Jungs hier und Freund da, dazu hatte ich keine Lust. Ich hatte wenige Freundinnen, dafür aber gute. Homies waren lockerer, mit ihnen konnte ich mich besser unterhalten, und die gingen nicht gleich los, um das gerade Gehörte um die Ecke zu verbreiten. Vielleicht kam das, weil ich mir damals einen älteren Bruder gewünscht hätte.

Aufgeschaut habe ich nur zu Frauen, die aktiv in der Szene waren. Wir trafen uns in Jugendzentren und trainierten; ich schrieb Reime, während andere tanzten, oder ich übte sprühen oder breaken. Mir ist es ist wichtig, meinen eigenen Traum auszuleben, und dafür muss ich eben innerlich ein Warrior sein.

Wie sieht denn so ein typischer Tagesablauf von Chéjah aus?

- Also, ich stehe um ca. sechs Uhr auf...

So früh!

- Ja, es gibt viel zu organisieren. Die Administration beansprucht mehr Zeit als man glaubt. Korrespondenz, Verhandlungen, etc. Chéjah Network ist seit 2 Jahren mein Eigenmanagement, wo ich auch meine ein bis zwei Mitarbeiter habe, die zum Teil auch bei Konzerten mithelfen. Persönliche Beratung ist mir auch wichtig. Aber bald brauche ich einen Manager, für die ganze Koordination.

Texte und Melodien fallen mir eigentlich spontan ein, unterwegs oder in schlaflosen Nächten oder zuhause beim Aufräumen.

Die Hip-Hop Bewegung ist noch sehr jung. Es gibt keine Schule, man bringt sich ziemlich alles selbst bei. Mir ist es wichtig, über meine Rechte Bescheid zu wissen. Wieviel eine Show oder das komponierte Material wert ist, hängt vom Bekanntheitsgrad und vom Erfolg eines Künstlers ab. Viele Künstler sind zu stolz, um um Hilfe zu bitten. "Knock and the door will open. Ask and you will receive." ist mein Motto. Im Business geht es hektisch zu. Man muss die Augen offen halten. Auch Sprüher und Tänzer sollten sich mehr um ihre Rechte kümmern wie die Copyrights.

Was hältst Du vom Kommerz?

- Hip-Hop ist zwar im Ghetto entstanden, aber erfunden worden, damit man nicht im Ghetto bleibt. Als ich in der Bronx war, hatte ich auch gedacht: 'Wow, cool, hier rumzulaufen." Der Kommerz wird viel kritisiert, was momentan mit Hip-Hop passiert ist doch auch Kommerz. Es soll mir niemand erzählen, dass z.B. Wu-Tang kein Kommerz wäre! Wu-Tang leben längst nicht mehr im Untergrund. Doch sie wissen, was es heisst, in Armut zu leben und können somit ihren Homies und Familien helfen und das ist gut so. Sie sind nicht wie eine Boy-Group zusammengewürfelt. Sie kommen darum echt daher, weil sie sich so verkaufen, wie sie sind plus nehmen ihre Kumpels mit auf die Reise.

Vielleicht sind nicht alle meiner Meinung, das macht auch nichts. Ich sehe es aus dem Business-Blickwinkel. Kommerz heisst für mich Handel, Verkauf. Verkauf Deiner Musik, Deines Könnens, nicht Deiner Seele, Deiner Persönlichkeit. Die sagen sich genauso wie ich: Ich habe lange umsonst gearbeitet, jetzt hole ich mir, was mir gehört. Mit dem verdienten Geld kannst Du Dich und andere Leute unterstützen.

Lauryn Hill hat einen Fond für Jugendliche ohne Ausbildung gegründet. Finde ich gut. Es steht auch geschrieben: Gib 10 % von deinem Einkommen ab, und das tue ich auch. Das heisst nicht, dass ich Parties organisiere, sondern das Geld dort einsetze, wo ich es als sinnvoll erachte. Momentan sind es einzelne Leute oder Hilfsorganisationen.

Was sind Deine nächsten Pläne?

- Die neue Maxi "I had a dream" / "G.O.D" steht schon fast bereit. Die neuen Tracks sind in Zusammenarbeit mit Joe B. aus Genf entstanden. Für die Scratches kam DJ Goo, auch aus Genf. Dann schreibe ich neues Material für eine LP. Release Termine (Deadline, ich nenn's Lifeline) kann ich jedoch noch nicht bekanntgeben. Ich arbeite einfach dran, suche einen Vertrieb, eine Plattenfirma. Meine Karriere ist wie meine junge Cherry-Tomatenpflanze, die ich ständig pflegen muss. Die Früchte kommen dann von alleine.

Am Ende des Gesprächs fragt Chéjah mich nach meinem Nachnamen.

- Woher kommt Dein Nachname?

- Aus Jordanien, da ist mein Vater her.

- Kannst Du auch Arabisch?

- Nein, das hat mich früher nie interessiert. Ich wollte nicht als Ausländer gelten.

- Mir hat das nie etwas ausgemacht. Italien ist toll. Wir haben das Essen, wir haben die Mode. Jedes Land hat seine Spezialitäten und Schönheiten - wie eine Schatztruhe mit vielen wertvollen Schmuckstücken. Ich schätze meine Herkunft (Kalabrien und Abruzzen, Italien), das Meer, das Essen ist einfach gut, die Leute offen, aber ziemlich neugierig.

Auf ihrer Visitenkarte steht schon ihr neuer Name Chéjah. Sie schreibt mir auf, was er bedeutet: "Es gibt Gott". (Tsche-ia ausgesprochen).


Gespräch mit Nicole im Jugi Gundeli im Dezember 1998

Nicole Schwarz gilt als eine der besten Breakdancerinnen in Basel. Sie sah ich regelmässig beim Trainieren im Jugi Gundeli. Meist zusammen mit ihrer Schülerin Stacy. Gerade übte Nicole, von einem Heli direkt auf einen Head-Spin überzuwechseln. Ich unterhielt mich mit ihr in einer kurzen Trainingspause.

Stacy und Nicole- Eine positive Einstellung ist wichtig im Breakdance. Ich bin seit 12 Jahren in der Szene, seit zweieinhalb Jahren breake ich. Alle meine Kollegen sind Breaker, mein Freund auch. Ich kenne kaum andere Leute ausserhalb des Hip-Hop.

Ist das nicht einseitig?

- Hip-Hop ist automatisch da (legt Hand aufs Herz), ich mag aber auch Natur und Wissenschaft. House-Musik mag ich auch, war auch mal auf einer Party.

Was ist typisch für die Basler Hip-Hop-Szene?

- Jede Stadt hat ihre eigenen Styles. In Basel kann jeder alles. Man ist für sich da und macht doch jeder sein eigenes Ding. Ja, und Disziplin. Alle vier Elemente sind vertreten.

Wie bist Du zum Hip-Hop gekommen?

- Ich hatte kein Geld damals und bin viel mit Hip-Hoppern herumgehangen. Ich war eigentlich nur Konsument, ich war da. In den Jugendtreffs wurde überall gebreakt.

Wann war das?

- 1986. Da gab es viel mehr Gewalt als heute. Ich habe mich durchgekämpft. Für mich war es ein tolles Feeling - die big family im Hip-Hop. Wir Älteren machen unser Ding, die Jüngeren ihr Ding , sie sehen manches vielleicht anders. Eine Zeitlang waren alle Jugis zu - wegen der Gewalt. Dann gab es harte Streetfights und Hip-Hopper wurden überall herausgeschmissen. Früher waren in den Jugis viel mehr Ausländer. Ausländer müssen sich auch mal durchsetzen, auch friedliche Weise ist es nicht immer einfach für sie.

Hier im Jugi Gundeli klappt es sehr gut. Disziplin ist das wichtigste Gebot - nicht gegeneinander, sondern miteinander.

Was ist typisch für Basel als Stadt?

- Es gibt weniger Aggressionen als in Frankreich und Deutschland. Früher war es hier ja krass, jetzt sind wir verwöhnt.

Kann man sich hier gut entfalten?

- Hier ist es nicht so streng wie in anderen Städten. Ich hab einen Job (Betriebsassistentin Hauswirtschaft in der UBS) und viele Möglichkeiten.

Was sind denn so die Gesprächsthemen unter den Breakdancern?

- Nur Tanzen! (lacht) Jams, über Meisterschaften und Anlässe. Manche denken nur an ihr Äusseres.

Viele Leute verbinden Hip-Hop nur mit Gewalt. Auch an der Uni sind mir Vorurteile über Hop-Hop zu Ohren gekommen.

- Das Problem: Die Leute trennen nicht zwischen den verschiedenen Arten von Hip-Hop. Sie sehen nur Gewalt und Gangsta-Rap. Für sie sehen wir auch komisch aus. Die Leute haben Probleme mit dem Äusseren. Das ist es!

Oft hört man den Verwurf, sie kopieren nur von den USA.

- Es hat in den USA angefangen und sich überall in der Welt weiterentwickelt. Die Entwicklung geht weiter. Und wir sind nicht in den USA, sondern in Europa.

Nachtrag vom 26.01.2000

Was sind Deine neuesten Pläne?

- Ich möchte zuerst meine Ausbildung beenden. Bei der UBS arbeite ich nicht mehr. Ich mache gerade eine Lehre als Fitness-Instructor, das eidgenössische Diplom, falls Du es genau wissen willst (grinst). Breakdance mache ich natürlich weiter.

Ich habe vor, Breakdance-Stunden zu geben. Und zwar für Mädchen, weil die zu kurz kommen. Mädchen trauen sich nicht, weil es in den Jugis fast nur Buben hat. Das soll eine Chance für Mädchen sein, sich mal zu trauen und mitzuhalten mit den Buben. Frauen, stürmt die Bühnen!


Gespräch mit Cozkun (Tuff Kid) im Euler 9 im Frühjahr 1999

Hip-Hop lohnt sich. Breakdancer Cozkun ( Tuff Kid) von den berühmten Basel City Attack hat zwei Tanzschulen aufgebaut. Sein Rezept: Man muss nur genug schwitzen, dann klappt alles. Ich treffe mich mit ihm in seinem Studio im Jugendtreff Euler 9.

CozkunWas machst Du so alles?

- Breaken, Tanzen, alles. Projekte mit der ganzen Schweiz. Ich habe eine eigene Tanzschule mit Manager.

Eine eigene Tanzschule?

- Ja, es sind zwei: in Lenzburg (AG) und Zürich. Im Sommer möchte ich drei neue Schulen aufmachen. Wir haben uns da einen Raum gemietet und unterrichten. Ich gebe jedoch nur noch Workshops, keinen Unterricht mehr.

Kann man davon leben?

- Ja, es lohnt sich! Ich mach das nicht nur zum Spass. Was ich trainiert habe, zahlt sich jetzt aus. Seit 6 Jahren trainiere ich schon. Schon vor vier Jahren hab ich mir vorgenommen, einmal davon zu leben. Ich will nicht angestellt sein und einen Chef haben. Ich will mein eigener Chef sein. Das wusste ich schon als 13-/14jähriger. Ich verstehe nicht, dass (nennt ein paar Namen aus der Basler Szene) immer noch nicht vom Hip-Hop leben. Wenn ich mit dem Herz dabei bin, habe ich doch nicht das Gefühl, dass ich mich verkaufe.

Jetzt so langsam kann ich davon leben. Es gibt trotzdem Tage, wo ich kein Geld habe. Lange Zeit habe ich mir damit Geld verdient, Käppchen zu nähen - von Hand und habe sie dann verkauft. Ich habe keinen Bock auf Schule. Das Tanzen hab ich im Blut. Man sagt immer wieder, macht eine Lehre, Kunst und Kultur haben keine Zukunft. Das ist nicht wahr! Es klappt, man muss nur genug schwitzen. Es gibt Gründe genug, dafür zu leben. Du bist jung und wirst nicht ernst genommen. Schade, in Basel haben wir eine gute Szene und gute Leute, es fehlt nur an Zusammenhalt.

Was ist mit B4R?

- Ich war auch dabei, ich war für den Tanzblock zuständig. Es hat‚s nicht gebracht.

Warum ist B4R Deiner Meinung nach auseinandergebrochen?

- Es gab keine Disziplin, im Büro hat man nur Witze gerissen und geschwätzt. Und viel geschrieben, das konnte B4R gut. Wir wurden unglaubwürdig.

Wie soll der Idealzustand aussehen?

- Ich weiss nicht, keiner gönnt anderen Kollegen in seinem Niveau etwas. Ich brauche sie jetzt nicht mehr. Ich hab genug Connexions. Mir langen meine fünf Leute. Ich frag mich: Wo bleibt die Family? Ende der 80er-Jahre gab es extremen Zusammenhalt, Anfang der 90er wurde er noch grösser.

Wieso?

- Da ist es noch nicht um Geld gegangen. Jetzt denken alle ans Geld verdienen.

Wie ging es bei Dir mit Hip-Hop los?

- Ich war auch in einer Gang (lacht). Ich war ein Mitläufer, der junge kleine Türke, der tanzt. Richtig bin ich erst seit '96 dabei. Anfang '89 habe ich Breakdance trainiert, um mir Respekt zu verschaffen - nicht für mich selber. Ich bin da neun Jahre alt gewesen, einer der jüngsten in der Schweiz, etwas ganz Spezielles. Ich bin 19 Jahre alt, habe Volksschule und sonst keine Ausbildung. Jetzt ist es eigentlich schlimmer als wenn ich normal schaffen würde!

Was hast Du denn für einen Tagesablauf?

- Um zehn Uhr aufstehen, bis 14 Uhr trainieren. Dann gibt es einiges zu erledigen - im Studio, in der Stadt, im Büro mit dem Manager, es hört irgendwie nie auf! Für mich trainiere ich sechs Stunden am Tag.

Wie bist Du zu diesem genialen Raum gekommen?

- Ich kannte ein paar Leute von der Eulerstrasse (Jugendtreff). Ich hab als 16jähriger mal zwei Contests organisiert, die sind gut angekommen.

Wie sieht sonst die Raum-Situation aus?

- Es hat genug Platz zum Trainieren. Im Jugi Gundeli war ich öfters, da bin ich quasi aufgewachsen. Ich schaue deshalb gerne vorbei. Auch um zu sehen, was die Jüngeren so machen. Mein Bruder (Cosmic Pop) breakt und macht Electric Boogie.

Wer ist in Deinen Augen ein Hip-Hopper?

- Nur Aktive, die vom Herzen dabei sind und nicht weil es 'in' ist. Alle anderen sind Konsumenten.

Wie wichtig sind Klamotten?

- Meine sind von adidas gesponsert. Ich zieh nur Trainersachen an, die sind gemütlich. Die addidas-Sachen müssen wir bei Shows immer anziehen.

Mit Deiner Crew (Basel City Attack) warst Du ja sehr erfolgreich.

- Wir sind dreifacher Schweizer Meister (1994, 1997, 1998). Ich war 1998 der beste Single Breaker Europe in einer B-Boy-Session in Stuttgart/Böblingen.

Früher, 1994, haben wir auch bei der Battle of the Year mitgemacht, wurden vierter von 20. Jetzt hab ich keinen Bock mehr drauf. Die Battle wurde zu sehr vermarktet. Sie drehen ein Video darüber, verkaufen es und die Crews bekommen kein Geld, obwohl sie da mittanzen.

Ich allein hab noch an einer Theatershow in Paris mitgemacht - mit einer der besten Truppen Frankreichs: Choream ("Körper und Seele"). Da gab es Tanz, Film und Theater mit den besten Leuten der Welt, aus L.A., New York, Deutschland…. In der Air Force Crew waren Tänzer von Run DMC dabei. Hier in Basel passiert wenig, weil Hip-Hop zu wenig ernst genommen wird.

Ist das in Frankreich anders?

- In Frankreich ist es ganz anders. Da hat Tanzkultur und Hip-Hop einen Wert an sich. Hip-Hop war in Frankreich für viele eine Rettung von der Strasse. Hier sind sie alle verwöhnt, Geld bekommen sie vom Arbeitsamt, sie haben keinen Drang zum Schaffen, die Bonzensöhnli.

Und in Frankreich?

- Beide, Hip-Hopper und die Gesellschaft sind offener, sie haben eine andere Mentalität. Paris ist Metropole für weltbekannte Kunst und Kultur. In der Schweiz leben Künstler von Leuten, die reich sind.

Warst Du schon mal in Japan?

- Ich bin eingeladen worden zu einem Contest, als Special Guest. Eines Tages bekam ich das Telefon, ich habe nicht gewusst, dass man mich da kennt.

Ausser Sonic sind in deiner Crew nur Türken.

- Ja, das ist gut so (grinst). Früher gab es nur wenige Aktive unter den Türken. In Deutschland machen fast nur Türken Hip-Hop. Es macht Spass, wenn viele Türken dabei sind. Früher haben Türken geklaut, fielen durch Gewalt auf in den Gangs. Das hat sich jetzt geändert. Unser Image hat sich gebessert.

Hat die türkische Herkunft eine Bedeutung?

- Nein, die ist wurscht. Es ist Zufall, dass in der Crew fast nur Türken sind. Mein Freundeskreis ist international. Früher waren es nur Türken, jetzt auch Thais und Japaner. Was ich schön finde: Auch in der Türkei gibt es eine grosse Hip-Hop-Szene. Wir sind mal nach Istanbul eingeladen worden. Da geht es voll ab. In jeder Stadt, in jedem Land, bis in die Dominikanische Republik…

Warst Du da auch?

- Ja, da gab‚s Shows und Feste, die Leute rappen, machen Electric Boogie.

Fühlst Du Dich als Türke?

- Ich fühle mich voll als Türke - und ich fühle mich gut. Ich lebe auch den Glauben. Mir ist der Islam wichtiger als Karriere. Ich mache aber nicht mehr so viel. Ich gehe zwar jeden Freitag in die Moschee, bete aber nicht fünf Mal am Tag.

Die Zulu-Nation ist auch vom Islam beeinflusst und wendet sich dagegen, dass man nur ans Business denkt. Africa Bambaata holte früher mit Hip-Hop Leute von der Strasse. Statt mit Fäusten sollte man sich im DJ-en, Rappen, Breaken und Sprühen messen. Man sollte positiv denken, kein Schweinefleisch essen, nicht lügen, kein Alkohol und keine Drogen nehmen. Da gibt es viele Ähnlichkeiten mit dem Islam.

Wie stehst Du dazu?

- Der Gedanke ist gut, auch wenn man nicht alles immer einhalten kann.

Was hältst Du von dem Gedanken, Hip-Hop sei etwas wie eine Religion? Das kam mir manchmal so vor - mit dem Jam als Gottesdienst.

- Eine Religion? Nein (Pause). Auf eine Art vielleicht schon, eine Art Lebenseinstellung. Hip-Hop bestimmt schon, wie man denkt, es ist mehr eine Filosofie. Früher vielleicht noch mehr, als Hip-Hop mehr Underground war, wo Aktive die Jams organisiert haben. Heute machen es oft Clubs, die keine Ahnung von Hip-Hop haben, die House und sonst alles gemischt anbieten. Breaker sind für die nur Unterhaltung. Heutzutage…, ich würde nie in Clubs breaken, das ist unter meiner Würde, reine Geldmacherei, das gehört nicht zum Hip-Hop.

Einige Hip-Hopper können aber inzwischen von Hip-Hop leben.

- Ja, die kannst du aber mit der Hand abzählen, gerade im Tanzbereich. Mich fragen oft Leute "Breakst Du immer noch?" Ich sag dann "Das ist mein Job. Ich bin Künstler."

Was machst Du, wenn Du 50 bist?

- Wart ab! In anderen Ländern ist das ein ganz normaler Job. Da sind Künstler angesehen.

Was hältst Du von Basel als Stadt? Lebst Du gerne hier?

- In Basel bin ich geboren und aufgewachsen. Samstag abend wissen sie nicht, wie sie sich amüsieren sollen. Barock? LaLuna? Das sind doch alles Scheissclubs.

Es ist komisch, wenn ich zurückdenke. In Basel hatte ich kein Erfolg gehabt, ich war im Ausland beliebter. Auch in Zürich oder Milano. Was für ein Unterschied! In Milano sind sie voll duurekeit. In Japan haben sie mir fast die Haare ausgerissen. In Paris war es auch krass.

Leute von auswärts sind ja immer etwas Spannendes. Die Einheimischen kennt man schon. Und der Profet im eigenen Land…

- Ja, das ist normal, regt mich aber trotzdem auf. Hier wird man nicht geschätzt. Wir erzählen immer von den anderen, den Tänzern aus Paris und New York…

Was fehlt in Basel?

- Ein geiler gemütlicher Club. Mit internationalen Leuten, gutem Sound, Rap und nicht nur R&B und Soul, davon gibt es zu viel. Wo man gut chillen kann, tanzen.

Was machst Du, was nicht mit Hip-Hop zu tun hat?

- (überlegt) Bowling spielen, gut essen, ausruhen, chillen, mich massieren lassen, ja und Sprudelbäder nehmen, das ist ein geiles Hobby!

Wie ist es bei Euch in der Szene - ist Kosovo ein Thema? Ist Hip-Hop auch politisch?

- Hip-Hop ist politisch. In türkischen Raps geht es viel über Situation in der Schule, Hip-Hop ist gegen Rassismus und Gewalt. Kosovo ist aber kein Thema. Wenn man Tänzer anschaut, sieht man was er denkt. In einem Stück erzähle ich nicht, ich tanze es. Ich unterstütze keine Partei.

Wie ist es mit den Kurden?

- Ich denke, es gibt wie überall Leute, die auf der einen oder anderen Seite aktiv sind. Ich finde Hip-Hop sollte sich da nicht reinziehen. Kurden sind schon manchmal extrem, sie leben nur für die Politik.

Was hast Du für Pläne?

- Europatourneen, die Schweiz abräumen und Frankreich… Endlich davon profitieren, was ich selber aufgebaut habe. Das ist mir nicht auf dem Tablett serviert worden, ich habe geschwitzt, trainiert.

Mein Traum ist es mit eigenen Leuten zu schaffen. Japan, Dänemark, Frankreich - allein hin und zurück, da hab ich kein Bock drauf, es ist besser, mit eigenen Leuten zu schaffen.

Aufs Unterrichten hab ich kein Bock. Vor drei Jahren habe ich angefangen. Die Schüler schätzen deine Arbeit nicht. In Paris ist das anders, die sind mit Musik aufgewachsen. In der Schweiz spielt man zu wenig Musik. Schau in der Steinen läuft keine Musik. In Paris oder in der Türkei läuft überall Musik in den Läden. Schüler muss man ermahnen, für sie ist es nur Hobby. Das ist ja gut und recht, aber ich habe keine Lust, wenn sie es nur deswegen kommen, weil es in ist.

Ja, wenn ich 50 bin, dann werde ich vielleicht wieder unterrichten.

UPDATE 12/2002:

neueres Interview mit Cozkun von 20min.ch (5.Nov2002)
ausführliches Portrait im NZZ-Folio (7/2002)


Gespräch mit Tarek im Mai 1999

Welcher Sprüher träumt nicht davon, sein eigenes Atelier zu haben? Und Writing als Teil des Studiums? Dafür sogar ein Stipendium zu bekommen? Tarek, 27 Jahre alt, lebendes Kalligrafie-Lexikon, Rapper und Wortakrobat, lebt seinen Traum. Ich besuche ihn in seinem Atelier in der Basler Kunstgewerbeschule. Als ich eintrat, stand er mit Bleistift und Papier in der Hand mitten im Raum - mit verklärtem Blick. "Gerade ist mir ein guter Reim eingefallen", erklärt er, " - über meine Königin... Wie findest Du den Reim?"

Tarek- Ich weiss gar nicht wie ich mich bezeichnen soll. Als Typograf? Schriftenmaler? Writer? Wahrscheinlich etwas zwischen Writer und Kalligraf.

In seinem Atelier hängen Bilder dicht an dicht. Nicht alle sind gesprüht. Er experimentiert auch mit Stoff-Buchstaben. Ein noch nicht fertiges Bild besteht aus mehreren gelben Buchstaben. An der Anordnung der Buchstaben grübelt er noch. Mit arabischer Schrift spielt er besonders gern. Das zeigt er mir an Bildern, die im Gang der Schule hängen. Eines ist ganz in Rot gemalt. Je nach Lichteinfall sieht man etwas anderes.

- Schau, wie das Licht mit der Schrift spielt. Arabische Schrift ist perfekt. Sie kann man nicht mehr verändern. Die Bewegung ist schon drin. Wie findest Du das?

Man denkt beim ersten Blick eher an moderne Kunst als an Graffiti.

- Also, die Basis ist Graffiti. Mein Thema ist Buchstaben und ihre Anwendung. Lettering. Dazu zähle ich auch Noten. Sie sind die Buchstaben der Musik. Auch wenn es so aussieht, von den Sprayern habe ich mich nicht distanziert, auch wenn ich neue Ausdrucksformen suche. Das Sprayen habe ich lange gemacht. Es gibt so viele Sachen, die ich noch nicht gemacht habe, die mich reizen. Lettering tun viele ab - als etwas Pubertäres. Lehrer in der Schule sagten, diese Buchstaben führen zu nichts. Mein Vater sagte auch: Mal lieber Natur und Landschaft. Wäre ich nicht so stur, hätte ich das alles nicht zustande gebracht.

Tarek holt ein paar Bücher aus dem Regal und zeigt sie mir.

- Ich bin Max-Ernst- und Escher-Freak. Sie zeigen, dass man die Welt auch ganz anders sehen kann.

Mir fällt beim Durchblättern auf, dass einige Bilder Graffitis ähneln.

Was machst Du alles?

- Musik, Theater, Malerei. Ich schreibe gerne über Politik, Gesellschaft, Liebe. Von morgens bis abends mache nur das. Ich bin als Araber aufgewachsen. Ich habe Bilder in mir. Bei deutschen Texten, gerade über Liebe, denke ich manchmal - Wieder so ein Schmalztext. Im Arabischen ist das ganz anders. Da gibt es nicht solch eine Unterscheidung. Ich überlege oft, wieso das so ist. Das ist das Spannende mit Sprachen, neues Erfinden, Kreieren, neue Bilder schaffen. MCs haben einen enormen Wortschatz!

Ich habe vor, ein Buch über die Ästhetik von Buchstaben zu schreiben und die Styles. Ich habe erst angefangen, es ist so schwierig, dass es mich erschrickt. (Kunstpause) "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann" (Spruch unbekannter Herkunft). "Buchstaben sind Fleischerhaken, an denen wir unsere Gedanken festhalten" (sein Spruch).

Beim Freestyle-Rappen sehe ich Buchstaben im Kopf. Ohne Buchstaben gibt es keine Gedanken.

Es folgt eine Diskussion, was zuerst da ist: Buchstaben oder Gedanken. Wir sind unterschiedlicher Meinung.

Bei GleisX hast Du ja auch mitgemacht.

- Ja, bei Vinny auch. Ich habe ein Bühnenbild eines Maxim-Gorki-Stückes im Theater Basel gemalt, ich gebe Workshops wie eben im Sommercasino "Graffiti - mehr als eine Sprühkunst". Ich plane eine Ausstellung, ich hoffe, ich kriege den Raum, den ich im Kopf hab.

Wie finanzierst Du das alles?

- Durch den Verkauf von Bilden, Aufträge, ausserdem bekomme ich ein Stipendium, so dass ich mich nicht ums Geld-Verdienen kümmern muss. Die Arbeit hier im Atelier ist anstrengend. Nicht in den Armen, sondern im Kopf. Wenn ich heimgehe, bin ich so ausgelaugt, wie wenn ich eine Stunde lang 50-Kilo-Säcke geschleppt hätte.

Das ist auch das Schöne daran. Ich habe mir das früher gewünscht. Ich lebe meinen Bubentraum. Ich wollte schon vor dem Hip-Hop Maler werden. Jetzt habe ich die Möglichkeit dazu. Ich habe Glück. Dafür bin ich so dankbar.

Wie hast Du das geschafft? Was ist Dein Rezept?

- Finger aus dem Arsch! Wille, Überzeugung! Ich ging zur Kunstgewerbeschule in den Vorkurs und wusste, ich komme rein. Zwei Monate vor dem Ende des Vorkurses habe ich mit der Mappe für die Malklasse angefangen. Ich wusste, ich schaffe es und habe die Zeit über nichts anderes gemacht.

Na, früher hätte ich nie gedacht, dass ich jetzt (Stoff-) Buchstaben glätte. Hätte mir das früher einer gesagt, hätte ich gesagt, du spinnst!

Nach der Schule möchte ich für ein halbes Jahr nach Ägypten gehen, meine Wurzeln suchen - auch da am Gazastreifen. Mein Vater kommt daher. Meine Mutter kommt aus Schwäbisch-Gmünd (Deutschland). Viele im Hip-Hop-Milieu sind zweite Generation Ausländer. Ich habe die Zerrissenheit in mir. Mein Vater gehört dem Islam an, meine Mutter gehörte dem Christentum an und ist zum Islam übergetreten. Zerissenheit ist das tägliche Brot. Das gibt natürlich auch Auftrieb, es zu verarbeiten.

Hip-Hop ist ein ideales Medium, Aggressionen und Unverständnis freien Lauf zu lassen in einer kreativen Form - dass heisst um Neid und Hass positiv zu nutzen. Ich nehm Deinen Hass und lass ihn zu Liebe werden. Wie im Tai Chi, Wintschung oder Kung Fu.

Aber muss denn Zerrissenheit überhaupt ein Problem sein? Muss man nicht beides verbinden? Ich kann das Gerede um das Zerrissensein zwischen zwei Kulturen nicht mehr hören. Ich weiss wovon Du redest. Ich habe auch eine deutsche Mutter und einen arabischen (jordanischen) Vater.

- Wie alt bist Du?

29.

- Und ich bin 27. Jetzt weiss ich das, was Du sagst, früher nicht. Früher sah ich es als Problem, zwei Kulturen in mir zu haben, jetzt finde ich es gut und nutze es.

Ja, okay, da ging es mir früher ähnlich. Ich wollte nicht als Ausländer gelten…

- …und hast Dich geärgert über Deine Locken, die braunen Augen, das Aussehen, wolltest gerne alles abstreifen?

Ja (kurze Pause). Stimmt!

- Ich habe einen sehr persönlichen Text geschrieben - über die Mühe, in welcher Gruppe ich mich daheim fühle.

Du entblösst Dich im Text.

- Ich sage es nicht so direkt. Ich will Bilder schaffen, so dass man überlegt: Wieso das? Man erreicht nichts, wenn man direkt ist. Wie in der Malerei. Warum einen Baum nicht mit violettem Stamm und gelben Blättern mit blauen Punkten malen? Ich möchte den Gedankenrahmen sprengen und damit auch alle Dogmen.

Wenn ich Deine Bilder anschaue - warum steht auf ihnen allen nur Tarek?

- Fame! Ich gebs ja zu, ich bin fame-geil. Ich will überall meinen Namen stehen sehen.

Wieso fame? Wieso ist das so wichtig? Was ist das überhaupt?

- Bekanntheitsgrad, einen Namen haben, ein Produkt, etwas, das mir finanzielle Unterstützung gewährt. Und das bedeutet Freiraum, Zeit, wo man sich verwirklichen kann, Texte schreiben, sich selber leben.

Malerei ist auch Mittel zum Zweck. Ich will soviel Kohle scheffeln, damit ich die Möglichkeit habe, anderen Leuten, die es brauchen, zu helfen. Und zwar auf kreative Art. Kreativität lässt Hass und Liebe verschmelzen. Ich würde gerne viel Geld scheffeln und damit alle Waffen aufkaufen, Panzer einschmelzen und daraus dann eine Riesen-Skulptur machen, einen Riesen-Tarek.

Ich schau ihn skeptisch-verwundert an.

- Ja, ich weiss, ich bin ein Traumtänzer. Aber ich tanze gerne in meinen Träumen.

Verkaufst du da auch Bilder? Ist wohl schwierig, Bilder wegzugeben?

- Nein, das ist kein Problem mehr. Vergänglichkeit, das ist etwas das Writer sehr beschäftigt. Auch filosofisch ist es ein Thema. - Sprayer sind keine besseren Menschen. Manche meinen, ich würde mich selbst verkaufen (Sell-Out). 12 Jahre male ich schon, mit Tags fing es an, ich habe alles mögliche gemacht, Unvernünftiges, grobe Bubenstreiche. Aber ich wusste, wann der Punkt war, damit auf zu hören. Ich kann das ganze Leben nicht "verflashen". Es war aber eine wichtige Periode, das Suchen.

Was meinst du mit flashen?

- Zugedröhnt sein, weisst du.

Was hast Du nach der Schule vor?

- Vielleicht nach Ägypten oder Australien? Ich weiss nicht. Oder nach Berlin? Wichtig ist, dass ich mich davon ernähren kann, was ich mache. Ein Traum wäre schon, ein Atelier in Kairo zu haben. Ich würde gerne mehr mit arabischer Schrift arbeiten und mit arabischen Musikern - nicht nur rappen, ich würde auch gerne probieren zu singen.

Sag mal, wie bist Du eigentlich zum Hip-Hop gekommen?

- 1987, ich bin mit dem Velo der Birs entlang gefahren. Da habe ich zum ersten Mal bunte Buchstaben an einer Mauer gesehen - riesengross, so ein Meter hoch und 6 Meter lang. Da hat es vor Farbe so geflasht. Grün, rot, orange, babyblau, gelb. An Gleisen hab ich noch andere Bilder gesehen. Ich wusste, das kann ich auch. Ich habe auch den Style Wars-Film gesehen. Mit Puccio habe ich Hip-Hop entdeckt. Das DJ-ing hab ich auch entdeckt. Malen war schon immer für mich massgebend gewesen. Ab und zu tanzte ich auch, sah zwar manchmal lächerlich aus, ist mir aber egal.

Vor vier Jahren habe ich mit dem Rappen angefangen und kann es jetzt sicher besser als am Anfang. Ich versuche im Rap wie in der Malerei, eigenständig zu sein Daran muss ich noch arbeiten.

Was hältst Du von Basel? Ist das eine Stadt, in der man sich verwirklichen kann?

- Basel ist ein Paradies für mich. Noch nie habe ich mich so gut gefühlt wie jetzt. Ich habe alles. Mir fehlt nichts. Ich bin der zweitglücklichste Mensch der Welt.

Auch wegen Deiner Königin?

- Ja! (lacht).

Es ist schwierig ohne Vitamin B etwas zu erreichen. Es gibt auch jemanden, der mich und meine Entwicklung verfolgt.

Wer ist das?

- Jakob Tschopp, er ist wie ein Schutzengel. Er berät mich, sponsert Dosen für Workshops und so. Es ist so: Was Du gibst, kriegst Du. Es ergibt sich dann vieles.

Die schlimmste Zeit war das halbe Jahr, wo ich geschafft hab, um den Vorkurs zu finanzieren. Ich habe sonst nichts anderes machen können, nur TV geschaut, getrunken. Jetzt habe ich viele Leute kennengelernt, die Interesse an meiner Arbeit haben, das ist was!

In der Kunst kommt das Zwischenmenschliche zu kurz. Gleis X hat mich besonders aufgepusht. Da habe ich gemerkt, die Leute mögen Dich. Das ist ein Grund, noch früher aufzustehen.

PS: Gegenwärtig arbeitet Tarek mit Leuten vom GleisX an einem neuen Theaterstück. Im Februar 2000 wird er eine Maxi heraus bringen.

UPDATE:

Biografie von Tarek (carzaniga-uecker.ch)
Zwei Bilder von Tarek (Galerie Carzaniga-Uecker)
Review der Maxi Bittersüess (aightgenossen, 16.9.03)


Gespräch mit Kalmoo in seinem Studio im April 1999

Black Tiger hatte mich gewarnt: MCs reden viel. Er hatte recht. Kalmoo redet viel. Kalmoo hat viel zu erzählen. Er weiss viel und beschäftigt sich mit vielem. Das war ein Gespräch, bei dem ich bedauerte, kein Aufnahmegerät mitgenommen zu haben! Er ist ein guter Erzähler und redet viel in Bildern, so dass man ganz vergisst mitzuschreiben. Kalmoo wird von vielen um seinen Lebensstil bewundert. Er lebt seinen Traum!

Ich treffe mich mit ihm im Keller des Sommercasinos. Dort mischte er gerade einen neuen Titel ab. Er hat da nämlich mit Kollegen eine Plattenfirma.

Kalmoo- Ich mache die Aufnahmen, Greenwood Nunningen mischt und macht das Mastering. Ein Grafiker gestaltet die Covers. Drucken lassen wir die Platten in London, in der Tschechei und Deutschland. Ich bin für das Rohmaterial zuständig.

Sagt er und zeigt mir seine Arbeit am Computer. Auf dem Bildschirm sehe ich grüne und gelbe Balken und viele weisse Kästchen.

- Was ist das? Und was machst Du da?

- Das ist das Lied, was ich gerade aufnehme und woran ich gerade noch arbeite. Das (zeigt) sind die einzelnen Spuren. Diese Linie (zeigt) hier ist die Lautstärke. Und hier (zeigt) regele ich die Balance rechts-links.

Jaja, ich bin der Typ von der Steinenvorstadt, der jetzt alle Möglichkeiten hat. Ja, aber Ferien liegen kaum drin. Richtige Plattenfirmen, Radiostationen und Musiksender, das fehlt alles in Basel. In vielem ist es in Frankreich oder Deutschland besser. Hier liegen viele Talente brach, weil es keine Risikofreude gibt. In der Welschschweiz wird auch mehr gemacht. Die Major-Firmen und das Radio sind viel offener.

Broken Shit (die Plattenfirma) vertreibt alles und jeden, inzwischen auch R&B. Wenn ich schon keine Ferien habe, dann gehe ich richtig ins Geschäft, nehme auch Werbeaufträge von der BKB (Basler Kantonalbank) an, eine vernünftige Bank. Dann kann ich nämlich sagen, ich trete gratis bei Kollegen auf – das Robin-Hood-Prinzip!

Zu Deinem Namen. Du wirst sowohl Kalmoo als auch Puccio genannt.

- Kalmoo ist eine von mir für die Bühne kreierte Person. Ich bin Puccio. Tarek, Philister, Vasi und Red G. sind andere Personen. Zusammen sind wir TNN.

Wer ist Kalmoo?

- Ein frecher Saurotz, der für einen Moment zeigt, wie er ist. Dass Vergangenheit wichtig ist, er blickt von der Gegenwart auf die Vergangenheit und die Zukunft.. In letzter Zeit (grinst) war sein Urgedanke: Selbstverwirklichung. Und zwar so direkt.

Was bedeutet TNN?

- The Notorious Notators - Die notorischen Notierer.

Und Kalmoo?

- Das ist arabisch und bedeutet "Ich möchte Dir gerne etwas mitteilen". Red G ist ein Vollblut B-Boy und Top-Breakdancer. Der DJ, er ist die Erde, wo der Stamm draufsteht, der die Wurzel ernährt und Kraft gibt. Der B-Boy (Breakdancer) setzt sie um, gibt sie wie der Stamm weiter nach oben. Oben kommt dann alles heraus - ein Bild. Jeder, der rappt, hat einmal als Breaker angefangen, da kannst Du sie alle fragen. Die MC setzt sich mit den Bildern mit der Sprache auseinander, die Sprüher mit der Sprühdose, der Breakdancer mit seinem Körper.

Woran arbeitest Du da gerade?

- An vielen Projekten, unter anderem an meiner Solo-Scheibe: Kalmoo ist direkt und darum will ihn keiner. Er ist nicht derjenige, der alles Positive vom Himmel herunterrappt. Er sagt eher: Es ist nicht immer ein Zuckerschlecken. Wenn das Herz sagt, tu es, dann tu es. Den Leuten fehlt so etwas.

Wie bist Du zum Hip-Hop gekommen?

- In Basel gab es viele Gruppen und Gangs voller gelangweilter Jugendliche, die sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und andere Leute gestresst haben. Das war, als ich 13-14 war. Dann habe ich Skelt getroffen. Er kannte viele Hip-Hopper. Er hat mich sehr beeinflusst. Ich sah ein, dass mir Hip-Hop mehr bringt. Hip-Hop ist etwas Eigenständiges, das einem eine neue Form gibt. Hip-Hop ist ein eigener Planet. Jeder ist sein Planet, jeder ist seine Filosofie, das ist bahnbrechend, revolutionär! 1987 hab ich mit Breakdancen angefangen. Mein erster Rap hiess "Go for PLO" (1989).

Ein politischer Rap?

- Nein. Von Politik halte ich nicht viel. Aus Politik wurde Scheisse. Die UNO ist ein Puppentheater.

Die Palästinenser sind meine Brüder: DJ Philister und Tarek - für sie habe ich den Rap geschrieben. Ich finde es scheisse, wie Palästinenser von Israelis behandelt werden. Der Gazastreifen, das sind 40 mal so-und-so-viel Kilometer, wo Leute keine Schulbildung bekommen, keine Medizin, wo Jugendliche vergilben. Da dachte ich, mache ich als 14jähriger mal die Fresse auf und sage, wie ich als Sizilianer darüber denke.

Ich möchte wissen, was um mich herum passiert, möchte Krankheiten durchschauen - zur Weiterentwicklung meines Selbstbewusstseins.

Zu Basel. Wie ging es mit dem Hip-Hop hier los?

- Das war 1981. Da tauchten in der Line die ersten Bilder auf. Da hat es auch mit dem Breakdance angefangen. Alle Ausländer waren zusammen. N-Top hiess er, der machte die geilsten Windmühlen, Swirl machte 99 auf der Hand, 10 bis 12 mehr als alle anderen. Er war Schweiz-weit einer der geilsten. Luana war die Erste, die ich habe rappen sehen, das 1987/88. Da dachte ich "Das ist geil!". Wo ACE jetzt seinen Laden hat, war früher eine Disco, die hiess Fairytale. Da waren viele Ausländer, da ist es abgegangen! An Cold Crush Nights, Jams mit der Old School.

Anfangs haben wir uns im Euler getroffen und haben gebreakt, dann im Gundeli, St.Johann und Bachgraben. Es gab viele Quartierparties. Hip-Hop war verrufen zu der Zeit, manche gehörten zur Steinenjugend, die andere Leute vermöbelte. Das hat die Aktivisten zersplittert. Wir konnten gar nicht erst auf Raumsuche gehen. Wenn man sagte Rap, war es aus. Wenn Du in der Steinenvorstadt warst und Bullen sahen Dich mit Turnschuhen und Käppi, wurdest Du gleich mitgenommen.

1991/92 war die Suger-Phase (Heroin). Massenschlägereien waren an der Tagesordnung. Wir sagten "Verkauf Deinen Scheiss woanders." Wir haben sie vertrieben, in der ganzen Stadt. Sie hingen in der Steinenvorstadt ab, in Gruppen, die Hälfte war auf Suger. Die Suger-Sache hat uns extrem geschadet.

Hei, Fuck up, diese Scheisse, sagten wir uns - 1993 - und fingen mit dem Wake-Up-Projekt an. Dann hat sich die Szene verflüssigt, es kam die Techno-House - und Ecstasy-Welle, die 2/3 der Szene weggepumpt hat. Inzwischen sind aber viele Neue dazugekommen. Ich habe B4R mitbegründet, wir machten Hip-Hop-Projekte, Workshops und Theater und wir merkten, die Leute wurden lockerer und besser drauf.

Wie bist Du zu dem Studio gekommen?

- Das haben wir zu dritt. Wir haben dafür gespart. Alle vier Elemente sind vertreten (zeigt auf Graffitis an Wände und Decke). Wobei, es gibt mehr Elemente. Hip-Hop wächst wie ein Baum. Es gibt noch Beat-Box, Management, Veranstalter, Promotion, Moderator, Show-Biz. (…)

Hip-Hop ist nicht nur Unterhaltung, sondern auch etwas Geistiges. Unter den Rappern sind Poeten drunter. "You can't claim justice for stolen people in a stolen land." Der Satz von KRS-One ist einfach genial.

Also Edutainment? Bildung und Unterhaltung?

- Ja.

Kalmoo fängt an, über Macchiavelli zu reden, über Banken als Gewinner des Sezessionskrieges, über Gandhi, den er gerne liest, über Sarajevo, die Konflikte am Kongo, der den meisten "am Arsch vorbeigeht". Er kritisiert "einseitige Berichterstattung" in den Medien. "Wem", fragt er, "gehören die Agenturen?"Mir fehlt Wissen, um mitzureden. "Du beschäftigst Dich nicht damit", stellt er in einer Mischung aus Verwunderung und Besorgnis fest. Er fährt fort:

- Hip-Hop ist ein Manifest der Jugend, die auf andere Bahnen geleitet wird von einer göttlichen Kraft, nicht von Gott an sich, sondern Gott in sich. Wir machen Forschung auf unsere Art. Wir zeigen unsere Gefühle auf, die Eingeengtheit. Wir schaffen an uns selbst, erkämpfen uns Freiräume, schaffen unseren eigenen Tempel.

Gestern hatten wir eine Diskussion. Darüber, dass es in der Gesellschaft keine Werte mehr gibt. Was heute einen Wert hat, gibt es morgen nicht mehr. Der Grossteil von uns ist bewusst, dass wir in der Scheisse stecken. Der Geist ist in Scheisse. In der Wiese liegt Abfall. Die Leute sehen Abfall und nicht die Blumen. Sie sehen so wie sie sich fühlen. Man muss in sich gehen und aus sich heraus hüpfen. Spass ist wichtig. Das Lachen soll nicht verschwinden. Ich stehe auf britischen Humor.
Das war Kalmoo.

Und Puccio?

- Soll ich über ihn erzählen? Hm, er bleibt am liebsten für sich, ist anständig (muss lachen). Ich weiss nicht - nein. Er ist Sohn von Immigranten aus Sizilien, aufgewachsen in Basel, die Kindheit war schön. Es machte Spass, mit anderen Ausländern zusammen zu sein. Nur ist er mit seiner Mentalität angestossen.

Ein Beispiel: Ich besuchte einen Schweizer Kollegen. Die waren gerade beim Essen. Man sagte mir, ich sollte warten, bis sie mit dem Essen fertig sind. In Sizilien, wenn da andere Leute kommen, würden sie sagen "Komm her, iss mit!" Ob man will oder nicht!

Das Gymnasium war nichts für mich. Da hatte ich nur Probleme. Da bin ich freiwillig gegangen. In Religion fragte ich immer nach dem Namen Gottes. Man sagte mir, das gehört sich nicht. Ich wollte alles aufdecken. Die Handelsschule habe ich dann mit Diplom abgeschlossen.

Was für eine Nationalität hast Du?

- Ich bin Doppelbürger Italien-Schweiz.

Er zeigt auf eine Landkarte an der Wand - auf eine Grenze zwischen zwei Ländern.

- Das ist doch Scheisse, die Grenzen, das Gerede von Staat und Identität. Kacke, ein Witz, um Menschen dumm zu machen. Astronomen, wenn sie aus dem Raumschiff schauen, sie sehen keine Grenzen. Das ist gut!

Ja, ich lese gerne indianische Sachen, Navaho-Prophezeiungen, von den Cherokee, den Cree: "Wenn der letzte Baum stirbt und so weiter". Ins Militär musste ich auch. Hirnfick! 15 Wochen in der RS. Aber ich habe gesehen, wie die Scheisse funktioniert. Als ich gemerkt hab, dass ich mehr nicht sehen brauche, bin ich zum Psychiater und raus. Ja, und jetzt lebe ich zusammen mit meiner Freundin und einem zwei Jahre altem Kind.

Nach dem Gespräch standen wir noch vor der Sizilienkarte an der Wand stehen. Er erzählte von der Insel, von ihrer internationalen Geschichte und Architektur. "Was meinst Du, wieso hat wohl die Stadt hier einen Elefanten im Wappen?"

UPDATE 12/2002 und 10/2003:

Homepage von Kalmoo
Kalmoo's erstes Album ist draussen - Interview dazu mit dem most magazine (most.ch, Maerz 2003)
Review von Kalmoos Album "Kaine e Froog?" (aight-genossen.ch, 12.9.03)
Neues von Kalmoo inkl Interview im Magazin Aightgenossen (aight-genossen.ch)


Kapitel 5: Verstehen. Das Resumée

Teil 1: Hip-Hop in Basel


Wie fasse ich meine Feldforschung zusammen? Dieses Kapitel verursachte mir das meiste Kopfzerbrechen. Verstehen ist ein Prozess. Erkenntnis ist abhängig von Zeit. Ein plötzlicher Gedanke, ein Gespräch, die Lektüre eines Textes können ein Resumée in ein neues Licht rücken, man beginnt, den Text umzuschreiben, da kommen neue Gedanken - ein nie endender Prozess, der einen nicht automatisch der Wahrheit näher bringt. Was ist die Essenz meiner Beobachtungen, Erlebnisse und Gespräche? Was erzählen sie über Hip-Hop in Basel?

Ein Teil der Antworten basiert auf den Aussagen der Interviewten, die ich lediglich wiedergebe, der andere besteht aus der Interpretation von Gesehenem, Gehörtem und Erlebtem und ist somit subjektiver gefärbt. Jeder setzt andere Schwerpunkte, da man die Welt mittels seines individuellen Vorwissens interpretiert. Es gibt mehrere Studien in ein und demselben Gebiet, die zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen. Wichtig ist hierbei, dass die Schlüsse für Aussenstehende nachvollziehbar sind. Deshalb räumte ich den Interviews einen so prominenten Platz in der Arbeit ein (und verbannte sie nicht in den Anhang, was das gewöhnliche Vorgehen gewesen wäre).

In dieser Arbeit habe ich beschrieben, wie es an einem Jam zugeht, wie die Bedingungen meiner Forschung waren, elf Hip-Hop-Künstler und Künstlerinnen haben von sich erzählt, davon, was Hip-Hop ist, was Hip-Hop sein kann. Lässt sich von ihnen auf alle andere Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstler in Basel schliessen? Natürlich nicht, jeder ist schliesslich "sein eigenes Universum" (Puccio) und nur der wird anerkannt, der einen eigenen Stil hat. Andererseits identifizieren sie sich mit der globalen Hip-Hop-Kultur und teilen mit ihren Kolleginnen und Kollegen einen gemeinsamen Nenner, was Lebensstil und Lebensfilosofie anbelangt. Sie repräsentieren Hip-Hop. Man macht nicht Hip-Hop, sondern man ist Hip-Hop (KRS-One 1996:5).

Ich präsentiere hier einige der Einsichten meiner Forschung. Für mich gilt wie alle Feldforscher: Selbst nach langen Studien weiss man noch lange nicht so viel wie ein Insider. Wie sagte es Fredrik Barth so schön: Ein Feldforscher muss mit einer Kaffeetasse die Niagarafälle einfangen.

Wer gehört dazu?

Unterhalten habe ich mich mit elf von mehreren hundert Aktiven. Interessant wäre noch gewesen, die Nicht-Aktiven zu hören: die Leute, die auf Veranstaltungen gehen, aber in keine der Sparten des Hip-Hop aktiv sind. Sie spielen eine ambivalente Rolle. Eine Frage, die immer wieder in der Szene für Diskussionen sorgt, ist die der Mitgliedschaft in der Hip-Hop-Szene. Wer gehört dazu? Hip-Hop besteht aus den Disziplinen DJ-ing, Breakdancen, Sprühen und Rappen. Dürfen sich also nur Leute, die breaken, dj-en, rappen oder sprühen, als Hip-Hopper bezeichnen? Was ist mit denen, die gerne die Musik hören, Breakern zuschauen, sich für Graffitis begeistern, sich in der Szene wohlfühlen, auf Jams gehen? Gehören sie nicht auch dazu? Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen.

Auf den ersten Blick scheint die Frage von sekundärer Bedeutung zu sein. Sie ist wichtig, weil es um Repräsentation geht. Jede gesellschaftliche Gruppe oder Institution legt Wert darauf, Kontrolle über ihr Erscheinungsbild nach aussen zu haben (für überzeugende Beispiele siehe GOFFMAN 1959). Firmen, Behörden oder Vereine haben extra Leute beschäftigt, die für Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind und die wissen, wie sie aufzutreten haben, was sie sagen dürfen und was nicht.

Die Hip-Hop-Szene Basels ist nur sehr lose organisiert. Es gibt viele kleinere Gruppen (Crew, Posse), die nebeneinander existieren. Zeitweise gab es grössere Hip-Hop-Vereinigungen, von ihnen ist nur die Kings Organisation (K.O.) von ACE übrig geblieben, Bee 4 Real hat sich in "lootin entertainment" und "broken shit records" aufgespalten. Die wenigsten Mitglieder haben noch einen Überblick über die Szene. Wer darf nun in der Öffentlichkeit Aussagen über Hip-Hop machen?

Nach einem kurzen Gespräch mit einem Hip-Hopper, der noch nicht lange aktiv ist, bekam ich von einer Ex-Breakerin zu hören: "Du kannst doch nicht irgend jemanden nehmen und ihn über die Szene ausfragen." Black Tiger regt sich über manche junge Sprüher auf: "Viele fangen an, ohne viel zu können und sprühen blindlings die ganze Stadt zu. Das verschlechtert unser Image."

"Echte Hip-Hopper fallen nicht auf"

Wie bilden sich Meinungen? Die öffentliche Meinung über Hip-Hop zum Beispiel? Wir urteilen nach unserem Wissens- und Erfahrungsschatz. Wer nichts mit der Szene zu tun hat, ist auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen: von den Medien, vom Hörensagen. So entstehen Vorurteile. Und die gibt es zuhauf. Hip-Hop, so bekam ich immer wieder zu hören, ist für viele Uneingeweihte: Sprüher Kron brachte es auf den Punkt: "Das Problem ist, dass Leute aus dem Kern nicht auffallen." Aussenstehende denken bei Hip-Hop an die 14jährigen "Mode-Hip-Höppler", die Hip-Hop nur von Viva oder MTV kennen. Diese Kids prägten auch das Klischee von der Hip-Hop-Kleidung: aufgeblasene Jacken, weite Hosen etc - den Gangsta- oder Ghettolook, wogegen die Besucher auf einem Jam im Sommercasino oder in der Kaserne gar nicht dem Klischee entsprechen.

Kleidung erzählt etwas über unsere Persönlichkeit. Bauern laufen anders herum als Bankdirektoren, Ethnologiestudenten anders als Jusstudenten, die neue 26jährige SP-Nationalrätin Ursula Wyss anders als ihr 25jähriger SVP-Nationalrats-Kollege Toni Brunner. Wir dürfen jedoch nicht den Umkehrschluss machen. Zu einer Szene gehört nicht zwingend eine "Uniform".

Ich fühlte mich an Verhältnisse bei Samen und anderen "indigenen Völkern" erinnert, die um ihre Rechte kämpfen. Die samische Musikerin Mari Boine erzählte mir, wie sehr sie anfangs Wert darauf gelegt hatte, traditionelle Trachten zu tragen. Sie brauchte die Kleidung, um sich selbst und anderen zu zeigen, wer sie ist und wie sie angesehen werden wollte. Sie war unsicher. Jetzt hat sie Selbstvertrauen gewonnen - und Trachten zieht sie keine mehr an.

Genauso wenig haben es aktive Hip-Hopper nötig, mit der sogenannten Hip-Hop-Mode herum zu laufen. Sie ziehen an, was bequem ist und den Anforderungen ihrer Arbeit entspricht. Sie leben Hip-Hop. Es sind in erster Linie die Konsumenten, die mit teuerer Marken-Ghetto-Kleidung anderen erzählen wollen, mit wem sie sich identifizieren, wie sie angesehen werden, sich selbst sehen wollen.

Wir dürfen aber Kleidung nicht überinterpretieren, Leute deswegen in Schubladen stecken. Manche der Konsumenten (sie darf man nicht über einen Kamm scheren) sind für die Existenz des Vorurteils verantwortlich, es gebe einen Zusammenhang zwischen Hip-Hop und Gewalt. Klar, viele der Aktiven haben früher mal "Scheisse gebaut" - wer hat das nicht? Dies waren oft schlecht oder gar nicht in die Hip-Hop-Community integrierte Leute, die gefrustet und gelangweilt waren oder nicht in einer der Hip-Hop-Disziplinen zurecht kamen. Sie wollten Aufmerksamkeit erregen (siehe auch FISCHLI 1994 und FRINGS 1997).

Die Hip-Hop-Ideologie verlangt, diese Leute zu respektieren, doch legen viele Aktive Wert darauf, sich von diesen Leuten abzugrenzen. Sie repräsentieren nicht Hip-Hop.

Aus Aussenseitern werden anerkannte Künstler: Basler Hip-Hop-Geschichte

Basel hat eine lebhafte Hip-Hop-Szene. Sie hat Künstlerinnen und Künstler hervor gebracht, die einen hohen Professionalisierungsgrad erreicht haben und schweizweit zu den Besten zählen. Man denke an die Breakdance Crew "Basel City Attack" (dreifache Schweizer Meister) um Cozkun (bester Single Breaker Europas 1998) oder an DJ Ace (Schweizer Meister im Scratchen 1996, zweifacher türkischer Meister 1997 und 1998). Die (Graffiti-) Line in der Einfahrt vom Bahnhof SBB, an der auch Werke von Kron zu sehen sind, ist europaweit bekannt und geschätzt. Der Erste, der auf Schweizerdeutsch rappte, war ein Basler (Black Tiger).

Allein während meiner Forschung entstanden mehrere Rap-Projekte: Basler erschienen auf einem Sampler anlässlich 150 Jahre Bundesstaat (Skeltigeron) und auf einem europäischen Hip-Hop-Sampler (TNN), nehmen eine Platte mit Kollegen aus Luzern auf (AOH-Family), feiern eigene LP- oder CD-Debuts (Black Tiger, tafs, MC Rony, P-27, bald Tarek und Dr.Kalmoo). Tarek erregte Aufsehen mit seiner neuen Form von Buchstabenkunst, einer Weiterentwicklung von Graffiti, und darf separat in Stuttgart und München ausstellen. Poet besitzt eine eigene Plattenfirma, Puccio ein Aufnahmestudio (mit Kollegen), Ace einen Laden, Cozkun drei Tanzschulen, Chéjah konnte man auf Viva und MTV sehen.

Man findet Hip-Hop-Künstler auch auf grenzüberschreitenden Mädchen-Aktions-Tagen (Mickey) und im Theater im Stück GleisX (u.a. Black Tiger, Tarek, ein neues Stück ist geplant). Sie sind um die 20 Jahre alt, treten schon als Manager auf und verhandeln mit Paris, London, New York und Tokio.

Immer mehr Leute können von ihrer Leidenschaft leben und werden auch immer mehr ausserhalb der Hip-Hop-Community anerkannt. Natürlich gibt es noch genug Leute, die Hip-Hop belächeln und es als pubertäres Getue abqualifizieren. So ergeht es offenbar jeder neuen Musikrichtung und Musikkultur, selten anerkennen die Älteren den Geschmack der Jüngeren: Jazz, Blues, Swing, Rock, Pop, das war früher einmal aufrührerisch, für junge Leute von heute ist es wenig aufregende Mainstream-Musik der Erwachsenen. Doch: Wer will schon allen gefallen?

Niemand hat die Entwicklung, die Hip-Hop in Basel die letzten Jahre durchgemacht hat, voraus gesehen. Die meisten Aktiven beurteilen sie positiv. Chéjah: "Damals wünschten wir uns das, was heute läuft. All die Parties, die Klamotten, die vielen Kontakte europaweit!" Mühe haben manche mit den Nebenwirkungen des Kommerzes. Wie erstaunlich die Entwicklung ist, verdeutlicht ein Blick zurück auf die Anfänge der Hip-Hop-Bewegung in Basel.

Als es noch keine Zuschauer gab: Hip-Hop als Verzweiflungsschrei

Hip-Hop in Basel begann Anfang der 80er-Jahre in einem sehr kleinen Kreis von jungen Leuten Fuss zu fassen. 1981 hatte Kron das erste Graffiti gesehen (am St.Johann Schulhaus). Hip-Hop wurde vor allem durch Filme wie "Wild Style" und "Style Wars" um 1984 herum beliebt. In den 80er-Jahren waren auf einem Jam so gut wie nur Aktive im Publikum, Zuschauer wie heute gab es nicht.

Hip-Hop entwickelte sich hier wie in den USA als Selbsthilfe-Bewegung von Jugendlichen, die sich an den Rand gedrängt fühlten: Ausländer aus den unteren Schichten, vorwiegend Spanier, Italiener und Jugoslawen. "Es war ein Verzweiflungsschrei", erinnert sich Sprüher Kron. "Wir wollten sagen, uns gibt es auch noch." Hip-Hop war für sie "ein ideales Forum, um ihrem Unverständnis freien Lauf zu lassen" (Black Tiger).

Sie waren auf der Suche nach Selbstbestätigung, dem Gefühl, auch etwas wert zu sein. Sie konnten sich und anderen zeigen, dass auch junge Ausländerinnen und Ausländer etwas Tolles zustande kriegen können. Sie gaben sich einen Künstlernamen, der dies oft symbolisiert (z.B. "Tuff Kid"). Hip-Hop gab eine Lebenseinstellung mit, die ihnen durchs Leben half.

Hip-Hop, sagte Black Tiger, sei eine Therapie zur Selbstentwicklung, ein Forum für unterdrückte Kreativität. In den vier Sparten des Hip-Hop konnten sich die Jugendlichen entfalten: als DJ, Rapper, Sprüher oder Tänzer. In der Hip-Hop-Welt wurde man nicht wegen seiner Nationalität oder Schichtzugehörigkeit diskriminiert. Sie alle waren eine Familie von "brothers and sisters". Jeder kannte jeden, und man hatte gemeinsam Spass. Im St.Johann, so Kron, haben sie auf der Strasse auf Kartons getanzt und sich im Park getroffen, den Ghettoblaster unterm Arm. Sie fielen auf mit ihrer Kleidung. Jeans und Turnschuhe, womit heute jeder herumläuft, waren früher aufrührerisch.

Eine mühsame Suche nach Platten und Graffiti-Büchern

Sie hatten es in vielerlei Hinsicht schwerer als Hip-Hopper von heute. Es gab keine Infrastruktur. Fast alle Plattenläden verkauften keine Rap-Platten. Die musste man sich mühsam aus England oder den USA beschaffen. Radio- und Fernsehsender boykottierten Rap (MTV bis 1988), das Rockmusik-Milieu wollte nichts von Hip-Hop wissen. In Clubs stand im Eingangsbereich angeschrieben: "Wir spielen nur gute Musik, keinen Rap!" Heute kann man Breakdance im Internet lernen und sich dort von Graffiti-Gallerien aus aller Welt anregen lassen.

Diese Möglichkeiten hatte man damals nicht. Chéjah erinnerte sich daran, wie sie sich "eins abkrampften, um nach New York zu fliegen, weil sie hier keine Adidas Superstar fanden oder um die Graffiti-Bücher zu kaufen, weil es hier 1986 noch nichts gab". Die internationalen Kontakte waren spärlich, die meisten, so Mickey Laze, besuchten lediglich Jams in anderen Schweizer Städten, ein Trip nach Frankreich oder Deutschland war schon etwas Besonderes.

Drogen und Gewalt spalten die Szene: "Wake Up" als Wendepunkt

Die 80er-Jahre war ein Frust-Jahrzehnt für Jugendliche. Jugendproteste waren in der ganzen Schweiz an der Tagesordnung. Viele waren frustriert, weil sie das Gefühl hatten, nirgendswo erwünscht zu sein. Es gab kaum Treffpunkte. Während dieses Jahrzehnts demonstrierten sie für die Errichtung autonomer Jugendzentren (AJZ). Die wenigen Jugendtreffpunkte in Basel, so Nicole Schwarz, wurden Mitte der 80er-Jahre wegen eskalierender Gewalt zeitweise geschlossen. Wohin jetzt? Viele landeten auf der Strasse, Frust und Gewalt nahmen zu, die Steinenvorstadt wurde berüchtigt für seine gewalttätigen Gangs.

Unter den Schlägern waren auch Hip-Hopper. Darunter hatten die Hip-Hopper zu leiden, die nichts mit der Gewalt zu tun haben wollten. Die Szene war gespalten, Hip-Hop verrufen. Kron: "Wir konnten gar nicht erst auf Raumsuche gehen. Wenn man sagte Rap, war es aus. Wenn du in der Steinenvorstadt warst, und Bullen sahen dich mit Turnschuhen und Käppi, wurdest du gleich mitgenommen."

Zu Beginn der 90er-Jahre kam das Drogenproblem. Immer mehr Jugendliche nahmen Heroin. Massenschlägereien, erzählt Puccio, waren an der Tagesordnung. Viele Aktive in der Hip-Hop-Szene konnten es nicht mit ansehen, wie die anderen, darunter auch Bekannte, an den Drogen zugrunde gingen und stellten 1993 eine Anti-Drogen-Aktion ("Wake Up") auf die Beine: Sie schrieben einen Rap, veranstalteten ein Konzert auf dem Barfüsserplatz, darauf folgte ein Präventionssampler und eine Tournee durch die Schweiz.

Diese Aktion war nach Einschätzung der Aktiven eine Art Wendepunkt. Über 23000 Leute, so Chéjah hätten sie angesprochen, darunter auch Jugendliche, die heute reimen. Black Tiger: "Jetzt ist Heroin aus dem Hip-Hop-Milieu verbannt. Du bist Aussenseiter, wenn du Heroin nimmst. Das hat Wake Up bewirkt." Kurz danach haben Tarek und Puccio eine Vereinigung gegründet, welche die positiven Seiten der Hip-Hop-Kultur fördern soll, die Qualität anheben (Bee4Real), um so Leute von Gewalt und Konsum harter Drogen abzubringen. Sie organisierten Workshops, Projekte, Parties und Festivals, brachten ein Theaterstück (GleisX) auf die Bühne. Sie hatten Erfolg, meint Puccio: "Wir merkten, die Leute wurden lockerer und besser drauf."

Zur gleichen Zeit (1994) hat ACE die Kings Organisation gegründet - mit einem ähnlichen Ziel vor Augen. Er wandte sich besonders an seine Landsleute, die Türken. Sie hatten einen schlechten Ruf und sollten zeigen, dass auch sie gute Parties organisieren können. ACE: "Wir haben Störenfriede integriert und angestellt. Wir hatten Erfolg." Hilfe erhielten sie von der House- und Technowelle, die einen grossen Teil der schlecht in die Szene integrierten Leute abpumpte.

Hip-Hop wird Mode: Generationenkonflikt und Professionalisierung

Zu dieser Zeit wurde die Szene neu durchmischt. Viele Neue kamen hinzu durch den Hip-Hop-Boom um 1993/94, ausgelöst durch die Kommerzialisierung der Strassenkultur. Rap wurde in verpoppter Form der breiten Masse zugänglich. Auf der anderen Seite war die Kommerzialisierung auch eine Chance für den "eigentlichen Hip-Hop", der immer mehr ins Radio- und Fernsehprogramm integriert wurde. Was heute auf Couleur 3, im Black Music Special auf DRS 3 oder in den Hip-Hop-Sendungen auf VIVA und MTV läuft, ist nicht nur Hitparadenmusik!

Die Öffentlichkeit wird nach und nach auf das künstlerische Know-How in der Szene aufmerksam, und Hip-Hop-Kultur taucht auf Vereins- und Firmenfesten, in Sportabteilungen von Kaufhäusern und im Theater auf.

Die vielen neuen Leute stellen für die "alten Hasen" der Old School eine Herausforderung dar. Die Neuen haben einen ganz anderen Background, sie lernten Hip-Hop nicht auf der Strasse kennen, sondern im Wohnzimmer, vor dem Fernseher. Die Folge: In der Hip-Hop-Szene entsteht ein Generationenkonflikt! In vielen Gesprächen lamentierten die Älteren über die Jüngeren auf ähnliche Weise wie Omas und Opas über ihre Enkelkinder. Kron: "Die Jüngeren zeigen keinen Respekt mehr. Sie kaufen sich Klamotten und meinen, sie seien cool. Sie wissen nicht Bescheid über Hip-Hop."

Die Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstler, die schon länger dabei sind, haben sich inzwischen qualitativ weiter verbessert. Für sie ist Hip-Hop ihr Leben, sie sind Hip-Hop. Sie machen eigene Läden auf, gründen Plattenfirmen, Aufnahmestudios. Die meisten Hip-Hopper arbeiten oder sind in Ausbildung, immer mehr leben sogar vom Hip-Hop. Die Vorstellung von Hip-Hop, das nur randständige arbeitslose Ausländer anziehe, stimmt nicht mehr. "Wir", betonte A-Man von tafs, "sind eine neue Generation."

Die Krux mit dem Kommerz

Diese Entwicklung sorgt für viel Diskussionsstoff, sie tangiert zentrale Werte der Hip-Hop-Kultur. Die Kommerzialisierung ist eine zweischneidige Sache. Jahrelang ist Hip-Hop belächelt und niedergemacht worden. MTV hatte sich geweigert, Rap-Videos auszustrahlen. Als Hip-Hop Mode wurde, tauchten viele "Rapper aus der Retorte" auf: Leute, die keine Ahnung von Hip-Hop und dessen Geschichte haben, es nur machen, um schnell Geld zu verdienen. Aktive fragen sich: Darf man bei diesem Geschäft mitmachen? Bin ich dann noch ich? Verkaufe ich dann nicht mich und meine Werte an den Markt? Die neuere Musikgeschichte kennt viele abschreckende Beispiele von Musikern und Bands, die einst im Untergrund tolle Musik machten, dann einen Hit landeten, Interesse der Massen auf sich zogen, sich dann an den Geschmack der Massen angepasst haben und langweilig wurden.

Die Kommerzialisierung betrifft Rapper, Breaker, Sprüher und DJs gleichermassen. Breaker und Sprüher werden inzwischen von grossen Firmen engagiert. Es ist verständlich, wenn Kron sagt: "Ich sprühe nicht für jede Firma." Die Breakdance-Battle of the Year wird für Cozkun immer unattraktiver, da es dort "nur noch ums Geld geht". Gute DJs sind überall gefragt, doch ACE sucht sich seine Auftraggeber genau aus. "In Schicki-Micki-Lokalen", sagt er, "kann ich mich nicht entfalten." Er zeigt sich besorgt darüber, dass durch die Professionalisierung die Arbeit einiger Hip-Hopper an Qualität nachgelassen habe. "Bei mir", betont er, "soll es nicht so werden." Wird er sich treu bleiben können?

Am deutlichsten von allen Hip-Hop-Künstlern, mit denen ich mich unterhalten hatte, hat MV (Mistress of Voice) Chéjah die rauhe Welt des Business kennen gelernt: die "Ungerechtigkeiten", die "Mind Control", "falsche Interpretationen" in den Medien, die einen "seelisch zerstören". Sie merkte auch, wie man ständig auf der Hut sein muss, um nicht über den Tisch gezogen zu werden. Sie suchte Zuflucht und Halt im Glauben an Gott und wurde religiös. Vom Business hat sie sich aber nicht verabschiedet. "Hip-Hop", sagt sie, "ist zwar im Ghetto entstanden, aber erfunden worden, damit man nicht im Ghetto bleibt." Auch Black Tiger "will nicht im Untergrund sterben".

Wie alle anderen Interviewten haben sie eine pragmatische Einstellung zum Kommerz. Sie holen sich das, wofür sie lange umsonst gearbeitet haben. Und an ihrem Erfolg lassen viele der erfolgreichen Hip-Hopper Andere teilhaben. Diese Einnahmen ermöglichen es ihnen, jüngere Künstler zu unterstützen und gratis bei Kollegen aufzutreten. Puccio nennt es das "Robin-Hood-Prinzip". Vom Markt profitieren? Warum nicht! Nur bei einem machen sie nicht mit: beim "Sell-Out", dem Verkauf ihrer Persönlichkeit an den Markt. Die Grenze muss jeder für sich selbst festlegen, über sie wird immer wieder heiss diskutiert.

"Wenn du es willst, schaffst du es"

Die portraitierten Hip-Hopper haben nicht mehr viel mit den Aussenseitern von früher gemeinsam. Sie haben lediglich mit dem Vorurteil anzukämpfen, sie seien noch welche. Aus frustrierten Jugendlichen sind professionelle Künstler geworden.

Wie haben sie das geschafft? "Wille" und "Überzeugung", sagt Tarek. "Man muss nur genug schwitzen", erklärt Cozkun. Hip-Hopper sind der pure Gegensatz zu Punks und manchen Gruppierungen aus der Alternativbewegung, die in den 80er-Jahren mit einer pessimistischen "Es ist eh alles sinnlos"-Einstellung ihre Opposition ausdrückten. "Wenn Du es wirklich willst, schaffst Du es", ist eine im Hip-Hop-Universum verbreitete Überzeugung und in verschiedener Form immer mal wieder auf Jams zu hören ("Lasst Euch nicht unterkriegen, powert drauf los!").

Das liegt sicher daran, dass es in erster Linie kreative Leute sind, die in die Szene einsteigen. Leute, die ein Forum brauchen, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Und die ehrgeizige Stimmung im Hip-Hop-Universum gibt einem einen zusätzlichen "Kick". So etwas wie "passive Mitgliedschaft" gibt es nicht. Nur herum zu jammern und Forderungen zu stellen, ist verpönt. Um angesehen und akzeptiert zu werden, muss man aktiv sein, Leistungsbereitschaft zeigen - als DJ, Tänzer, Sprüher oder Rapper. Oder als Künstlervermittler, Grafiker, Manager. Wichtig ist, dass man sich als Teil der Hip-Hop-Kultur sieht, ihre Regeln und Werte akzeptiert und an deren Weiterentwicklung arbeitet.

So hat Black Tiger jahrelang geübt und Beats zusammen gemixt und wie viele seiner Kollegen mühselig Geld zusammengespart, um seinen Traum zu verwirklichen. Schweizer Hip-Hop hat er neu definiert, nachdem er als Erster auf Mundart rappte. Obwohl ihn alle davon abbringen wollten, war Cozkun überzeugt, dass er von seiner Leidenschaft, dem Tanzen, leben könne. "Künstler sein, das ist mein Job", sagt er.

Tarek hatte sich in den Kopf gesetzt, auf der Kunstgewerbeschule die Buchstabenkunst weiter zu entwickeln. Zwei Monate lang hat er für die Mappe für die Malerklasse gemalt und in der Zeit nichts anderes gemacht. "Ich wusste, ich schaffe es", sagt er.

Im oberen Waldenburgertal reagierten Hip-Hopper auf das mangelnde Angebot für junge Leute auf dem Land. Sämtliche Firmen fragten sie an auf der Suche nach einem Probe- und Aufenthaltsraum. Sie schafften es. Jeder der jungen Leute hat etwas zugesteuert, gebracht, was er oder sie hatte. Das Miteinander klappt schon ein paar Jahre, "weil wir eine Gemeinschaft sind" (Poet).

"Ich bin gut und kann das zugeben"

Die Hip-Hop-Kultur ist ein Universum, wo es erlaubt ist, positiv von sich selbst zu sprechen. Das wird sogar von einem erwartet. Man muss zu sich stehen. überzeugt von sich sein im Sinne von "Ich bin gut und kann das zugeben" (Black Tiger) und Kritik ertragen können, um bestehen zu können. Puccio: "Man sagt, man ist gut. So pusht man sich auf." Für Leute, die nicht gut drauf seien, sei diese Strategie besser als psychologisches Training.

Ihre Werke, seien es Raps, Graffitis, Tänze oder Mixe an Parties, sind öffentlich und damit ständig der Beurteilung anderer - ob Lob oder Tadel - ausgesetzt. Ein Rapper muss vor hunderten von Leuten auftreten können und die Gunst des Publikums gewinnen. Keine einfache Sache! Welch Kunst das ist, wird deutlich, liest man KRS-One‘s Buch "The Science of Rap" (1996).

Rapper können riskieren "gedissed" zu werden (von "to disrespect": jemanden in einem Rap öffentlich kritisieren). Hip-Hop ist ein ständiges Messen, jeder will "Fame" und "Respect" ernten. Breakdance-Crews arrangieren gegeneinander "Battles". An Hip-Hop-Events gibt es Tanzwettbewerbe, an denen es so ernst zugeht wie an Kunstturn-Meisterschaften. Ein Graffiti übermalen darf man nur, wenn man überzeugt ist, man könne ein besseres malen. Diese Art von Wettbewerb soll anspornen, gut zu sein – eine Denkweise, die wir vom Hochleistungssport kennen oder von der freien Marktwirtschaft. Sie ist vielleicht etwas universell Menschliches (als Journalist möchte ich auch besser als mein Kollege vom Konkurrenzblatt sein).

Es mag wichtig sein, sich an den geschichtlichen Hintergrund der Wettbewerbs-Filosofie im Hip-Hop zu erinnern, an die Strassenkämpfe verfeindeter Gangs in New York, an Afrika Bambaataa, der den Wettbewerb auf kreative Weise nutzte, um Gewalt zu vermindern ("mit Tanzen, Rappen, Sprühen und DJ-ing statt mit Fäusten").

"Wo bleibt die Family?"

Das ständige Messen ist kein unproblematisches Element im Hip-Hop-Universum. Es fördert das Konkurrenzdenken, setzt Leute unter Leistungsdruck und kann eine Quelle für Streit und Gewalt sein. Bei jedem Wettbewerb gibt es Verlierer und nicht jeder hat für sich herausgefunden, "dass es eigentlich keinen Besten gibt, sondern nur sehr viele Gute und sehr viele verschiedene Stile" (Black Tiger). Manche werden ich-bezogen und verlieren die Hip-Hop-Kultur als Ganzes aus dem Blick. Besonders Leute, die länger dabei sind, bemängeln das.

Unter dem Wettbewerb kann der Family-Gedanke leiden. Der Kommerz verstärkt die Individualisierung bei manchen Leuten. Seitdem man mit Hip-Hop Geld verdienen kann, hat Cozkun bemerkt, dass manche Leute bevorzugt ihre eigenen Wege gehen, der Zusammenhalt schwächer wird. "Wo bleibt die Family?", fragt er. In der Hip-Hop-Kultur bewegt man sich zwischen Werten, die sich widersprechen können: Solidarität und Individualität.

"Jeder ist sein Planet, jeder seine Filosofie"

In der Hip-Hop-Szene wird nämlich Solidarität genauso gross geschrieben wie Individualität. "Jeder ist sein Planet, jeder ist seine Filosofie", erklärte Puccio ganz begeistert. Es gibt niemand, der einem etwas zu befehlen hat. In der Vereinigung B4R waren alle Mitglieder gleichberechtigt. Auch Cozkun mag diese Denkweise. Er will "sein eigener Chef" sein. Das bedeutet auch, dass jeder schauen muss, dass er selbst zurecht kommt, Eigeniniative wird verlangt.

Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid. Für Einsteiger gibt es keine Einführungskurse. Darum muss man sich selber kümmern. Und jeder muss seinen eigenen Stil finden. Wer nur kopiert, wird nicht akzeptiert.

Es ist offensichtlich: Das Zusammenleben von so vielen selbstbewussten Individualisten kann (nicht nur in der Hip-Hop-Szene!) zu Problemen führen. Manche werden arrogant. Black Tiger erachtet es deshalb als notwendig, auf Jams die Leute aufzufordern, auch denen Respekt zu zollen, die nicht gut sind. Schnell ziehen Erfolgreiche den Neid anderer auf sich zu. "Keiner gönnt einem was", meint Cozkun. Tarek empfindet das ähnlich, fühlt sich manchmal ausgeschlossen, nachdem er sich vom konventionellen Graffiti entfernt hat und Erfolge feiert.

"Es ist egal, woher du kommst, es zählt nur, was du machst"

Was hat es nun mit dieser "Family" auf sich? Sie ist so etwas wie ein Netzwerk, das Gleichgesinnte miteinander verbindet. Man soll zusammenstehen, sich gegenseitig stark machen – und dies mit einem Set von Regeln und Normen, in denen sich die Mitglieder zu Hause fühlen können – wie in einer Familie eben.

Ein Jam wird als gut empfunden, wenn man sich "wie in einer Familie" vorkommen konnte. Zwischen Auftretenden und Jam-Besuchern sollte so wenig wie möglich Distanz sein. Die Einheit mit Gleichgesinnten in der ganzen Welt ist für viele ein berauschendes Gefühl. Mickey Laze: "Man lernt so viele Leute kennen, es ist egal, woher du kommst, es zählt nur, was du machst. Du bist nicht allein. Wow! Da bekomme ich richtig Gänsehaut."

Gerne sehen Gesellschaftswissenschaftler die Hip-Hop-Family als Ersatz der biologischen Familie an, des zerrütteten Elternhauses (u.a.FISCHLI 1994). Ihre Annahme kann, besonders in den Anfangszeiten, zugetroffen haben (siehe Interview mit Kron).

Ich finde, man darf die Wortwahl aber nicht überinterpretieren. Solche "Ersatzfamilien" sind etwas Gewöhnliches. Vereine bezeichnen sich gerne als zweites Zuhause. Niemandem würde einfallen, die Mitgliedschaft in einem Sportverein auf die Existenz einer zerrütteten Familie zurückzuführen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und jeder schliesst sich der Gruppe an, in der er sich wohl fühlt und verwirklichen kann.

Viele Hip-Hop-Künstler, mit denen ich redete, waren sogenannte Secundos. In Wissenschaft und Medien werden diese Leute stigmatisiert, da "Secundos" per Definition "gespalten zwischen zwei Kulturen" sind und somit im ständigen Konflikt mit sich selbst und ihrer Umwelt.

Im Hip-Hop-Universum werden Individuen nicht durch ihre Herkunft oder Schichtzugehörigkeit definiert. Hip-Hop ist eine globale, transnationale Bewegung, in der nur die Identifikation mit der Hip-Hop-Kultur und ihren Werten ausschlaggebend für die Mitgliedschaft ist. Hier merkt man, dass der Status als "Secundo" gar nichts Negatives ist – im Gegenteil: "Secundos" nutzen ihre gemischte Herkunft und gehen spielerisch damit um. Wie mir Black Tiger sagte, haben sogar manche von ihnen Komplexe, wenn sie nur Schweizer oder nur Deutsche sind.

Welche Bedeutung Nationalität im Alltag spielt, konnte ich nur ansatzweise untersuchen. Mir ist aufgefallen, dass zwar auch hier Spanier viel mit Spaniern, Türken viel mit Türken unterwegs sind. Alle Befragte haben durch den bunten Mix an Nationalitäten in der Basler Hip-Hop-Szene und durch ihre Reisen jedoch einen internationalen Freundeskreis. Auf Jams sieht man auffallend viele gemischte Paare. Hip-Hop-Crews bestehen nicht selten aus genauso vielen Nationalitäten wie Mitgliedern. Hip-Hopper sind sprachgewandt, viele wechseln mühelos von Mundart auf Französisch, Englisch und Italienisch.

Immer wieder musste ich an einen Satz von DJ El-Q denken, den er mir zu Beginn auf den Weg gegeben hatte. "Nationalität ist wichtig und doch nicht wichtig." Jetzt glaube ich, ihn zu verstehen. Unwichtig ist Nationalität im Umgang untereinander (Spain Kid: "Danach fragt man nur aus Höflichkeit").

Wichtig ist sie für sie selber, das sieht man an ihren Namen wie Spain Kid oder Black Tiger (black spielt auf Hautfarbe seiner Mutter an) oder man merkt es an der Sprache der Raps: sie gibt es auf griechisch, französisch, spanisch oder baseldeutsch. In Graffitis experimentiert Tarek mit arabischer Schrift, Puccio mischt unter seine Beats sizilianische Klänge.

Nationalität ersetzen wir hier besser mit Selbst-Identifizierung. Der Grossteil der Hip-Hopper ist in der Schweiz aufgewachsen, Baseldeutsch ist für viele Muttersprache.

Hip-Hop ist gleichzeitig global orientiert und lokal verankert. Hip-Hopper vertreten auf auswärtigen Jams ihre Stadt. Raps erzählen von ihrem Alltag, ob von gemeinsamen Fahrten in der Waldenburgbahn oder von Verfolgungsszenen der Sprüher am Bahnhof SBB. Und: In welcher Musiksparte ausser der Volksmusik (und Berndeutsch-Rock) ist Mundart so verbreitet wie im Hip-Hop-Rap?

"Eine Therapie für alle"

Die portraitierten Hip-Hop-Künstler haben sich mit den Widersprüchen arrangiert und ihren Weg gefunden, Hip-Hop zu leben. Das Leben in der Hip-Hop-Community hat ihnen einen Wissens- und Erfahrungsschatz verliehen, der bedeutend grösser ist als der von vielen anderen jungen Leuten.

In den vorangehenden Kapiteln ist deutlich geworden, dass das Rappen, Tanzen, Sprühen oder DJ-ing für die Aktiven keine Freizeitbeschäftigung ist wie für andere Joggen oder Kegeln. Für sie ist Hip-Hop eine Lebenseinstellung, ihr "way of life", ihre Art, sich auszudrücken, sich anderen mitzuteilen, Anerkennung zu ernten.

Man kann Hip-Hop wie Black Tiger als eine Art Therapie zur Selbstentwicklung ansehen. Ob nun auf charakterlicher oder künstlerischer Ebene. Jeder arbeitet intensiv an sich, es braucht nicht nur Talent, sondern auch Fleiss - ein langer Weg. Im Hip-Hop reflektiert man, was man macht. "Man fragt sich, wer bin ich? Woher komme ich?" Man wird kritischer, schaut, was für einen gut ist. Das lernt man durch diese Auseinandersetzung mit sich und den Lebenswelten anderer.

Hip-Hop ist wahrscheinlich die am buntesten vermischte Jugendkultur-Bewegung, die es gibt. Früher waren nur Ausländer aktiv, jetzt sind auch viele Schweizer und Doppelbürger, Leute aus der Mittelschicht und immer mehr Frauen vertreten (die aktive B-Girl-Szene in der Schweiz wird besonders von Deutschen positiv hervorgehoben).

Der Austausch beschränkt sich nicht auf Basel. In Raps hört man Geschichten vom Leben anderer Rapper auf der ganzen Welt, lernt ihre Städte, ihre Gedanken kennen, da viele von sich und ihrem Quartier und ihrer Stadt rappen. Die meisten Hip-Hopper sind regelmässig unterwegs in ganz Europa, in den USA oder sogar mal in Japan, sie haben Kontakt zu den Hip-Hop-Szenen in der ganzen Welt. Kron ist regelmässig in Paris und arbeitet dort in mehreren Crews. Städte, erzählte er, lernen sie nicht wie Touristen kennen, sondern durch ihre Kontakte wie Einheimische. "Man lebt in ihnen."

Hip-Hop ist kreatives Schaffen, Unterhaltung und Bildung ("Edutainment") gleichzeitig. Schon als 13jähriger schrieb Puccio einen Rap mit dem Titel "Go for PLO" über das Verhältnis von Palästinensern und Israelis. Angeregt hat ihn sein Freund und Hip-Hop-Kollege Tarek, dessen Vater aus dem Gaza-Streifen stammt.

Viele Hip-Hop-Künstler wollen mit ihrer Arbeit unterhalten und zum Denken anregen (moralisieren ist verpönt!) Manchmal bringen sie ihre Messages unverblümt direkt ans Volk (mit Texten, die sie mir nicht zur Veröffentlichung geben wollten...), manchmal lieber verpackt in ausgefeilten Rhymes, in poetischer Sprache, in surrealistischen Bildern (man denke an Tareks gelb-violette Bäume) oder Bewegungen (Cozkun: "Ich sage es nicht, ich tanze es").

Hip-Hop kann sozialkritisch und politisch sein. Das wird deutlich in Graffitis mit Messages wie "Stop The Violence", während Aktionen gegen Drogen und natürlich in Raptexten. Hip-Hop in Basel, das sind viele unterschiedliche Individuuen, die ihr Ding machen. Sie vereint Kreativität und der Wille, etwas aus ihrem Leben zu machen.


Kapitel 5: Verstehen. Das Resumée

Teil 2: Hip-Hop und Jugendpolitik


Eine Forschungsarbeit soll im Idealfall nicht nur neues Fachwissen anhäufen, sondern auch zur Theoriediskussion beitragen. Deshalb zum Schluss noch ein paar Gedanken über mögliche Folgerungen für Ethnologie und Jugendpolitik.

Mehr Freiraum!

Jugendkultur ist abhängig von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Das Universum, das die Hip-Hopper aufgebaut haben, existiert nicht autonom vor sich hin. Black Tiger bleibt realistisch: "Anarchie gibt es nicht. Man baut sich immer wieder ins System ein." Hip-Hopper fordern nicht, sie packen selbst an, machen ihr Ding. Die meisten identifizieren sich mit ihrer Stadt und fühlen sich mehr oder weniger wohl in Basel. Was jedoch von allen bemängelt wird, ist das Fehlen von Räumlichkeiten. Oft fehlt auch Geld für Projekte.

"Viele Talente liegen brach", bemängeln Kalmoo und Black Tiger. Nur wer die Kraft und die notwendige Hartnäckigkeit dazu hat, kann etwas aus sich machen, die andern bleiben auf der Strecke. Black Tiger:

Räume und Treffpunkte sind für Jugendliche, die noch nicht alt genug sind oder nicht das Geld haben, aus dem Elternhaus auszuziehen, besonders wichtig. Nicht alle haben Lust, die Freizeit mit ihren Eltern zu verbringen. Wo sollen sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen treffen? In Beizen abzumachen, wird auf die Dauer zu teuer. Wo sollen sie ihren Interessen nachgehen können, Graffiti-Skizzen anfertigen, Scratchen und rappen üben, Breakdance-Figuren einstudieren?

Viele Hip-Hopper träumen von eigenen Studios oder Ateliers, für manche von ihnen ist der Traum wahr geworden. Doch was ist mit den anderen? Für viele ist einer der fünf Jugendtreffpunkte der Basler Freizeitaktion (BFA) der letzte Ausweg. Diese sind aber nicht immer offen, wenn man sie braucht. Einige Mädchen scheuen sich dahin zu gehen, weil es fast nur Jungs dort hat. Hartnäckig hält sich das Vorurteil, diese Jugis seien nur für Jugendliche aus kaputten Familien da. Die BFA bemüht sich, das Angebot zu verbessern, unter anderem durch Mädchenarbeit. Neben dem Treffleiter engagieren sie bewusst eine Praktikantin (SITEK 1999). Die BFA steht aber unter finanziellem Druck: Auch Sozialarbeit soll sich lohnen.

Es gibt ein Jugi, in dem die meisten Aktiven der Hip-Hop-Szene quasi aufgewachsen sind: das Jugi Gundeli hinter dem Bahnhof SBB. Die neuere Geschichte dieses Treffs zeigt exemplarisch auf, welch Bedeutung Raum für die Jugendlichen hat und wie junge Leute die Wahrnehmung ihrer Interessen durch die Stadtverwaltung sehen.

Es ist einer der beliebtesten Treffs in Basel. Kein Wunder: Sozialarbeiter Antonio Gabl feiert mit ihnen Parties, kocht, unternimmt Ausflüge und hört ihnen zu, wenn sie Stress mit ihren Eltern haben. Hier können junge Leute unter sich sein, es hat keine Nachbarn, der grosse Aussenplatz mit Skater-Rampen und Basketball-Körben zieht sogar Leute aus dem benachbarten Südbaden und Elsass an.

Viele sind Stammgäste und wüssten nicht, wohin sie sonst sollten: Spain Kid, der hier jeden Tag stundenlang trainiert oder Fidon, ein 14jähriger Albaner, der immer nach der Schule herkommt: "In eine Beiz zu sitzen habe ich keine Lust", sagt er, am Flipperkasten stehend. Ich war mehrmals dort, um Interviews zu führen. Egal, mit wem ich redete, bald folgte die Bemerkung "Jaja, aber im Sommer (1999) wird das Jugi eh abgerissen."

Im Rahmen der Neugestaltung des Bahnhof SBB hatte der Kanton eine Zugangsstrasse geplant, die quer über das Gelände der Jugi führen sollte. Antonio Gabl hat schon seit vier Jahren gegen die Strasse gekämpft. "Der Bau der Strasse würde der Verlust des besten Hauses für die Jugend Basels bedeuten", sagt er. Wo gibt es sonst eine so grosse Aussenfläche? Reduziere man sie, so Gabl, vergrössere man das Gewaltpotential. "Für die Folgen möchte ich keine Verantwortung übernehmen." Mir gegenüber betonte die Vorsteherin des Baudepartements, SP-Regierungsrätin Barbara Schneider, sie sei am Erhalt des Jugis interessiert. Die Jugendlichen jedoch, so sagte mir Kron, hätten keine Hoffnung mehr. "Wir sitzen eh am kürzeren Hebel" .

Wie sehr es an Freiraum in der Stadt fehlt, wurde auch im Stadtentwicklungsprojekt "Werkstadt Basel" deutlich. In mehreren Innovations- und Konsenskonferenzen sammelten Bewohnerinnen und Bewohner Ideen für eine lebenswertere Stadt. Neue Quartier- und Jugend-Treffpunkte waren eine der am häufigsten genannten Projektvorschläge - ob nun von Erwachsenen oder von Jugendlichen. Es gibt zahlreiche Ideen von Jugendlichen, wie Treffpunkte zu organisieren und zu gestalten sind (nachzulesen im Internet unter www.werkstadt-basel.ch).

Nihilismus! Und eine neue kopernikanische Revolution!

Gesellschaftliche Fronten, den Eindruck bekommt man immer wieder, verlaufen vor allem zwischen Jung und Alt. An dieser These ist sicher etwas dran. "Alter" ist in vielen Gesellschaften auf der ganzen Welt eine relevante Kategorie. "Alter" ist sogar mit "Geschlecht" oft ein wichtigeres Kriterium für soziale Schichtung als Klasse, Kaste und Ethnizität (ERIKSEN 1993:147). Konflikt zwischen Jung und Alt gibt es überall auf der Welt. Mir kommt er vor wie ein klassischer Kulturkonflikt: Die Kommunikation stimmt nicht, man redet aneinander vorbei. Verschiedene Wertesysteme kollidieren miteinander.

Das Problem liegt meiner Meinung nach jedoch tiefer begraben. Es drückt sich lediglich via "Alter" aus. Es ist dasselbe Problem, das auch im Umgang mit "Ausländern" zutage tritt - die Wahrnehmung und der Umgang mit "Anderem", mit "Fremdem": Wie gehe ich mit Leuten um, die "anders" sind, mit Ideen, die "unkonventionell" sind? Was empfinde ich unter "anders"? Sehe ich "Andersartigkeit" als Bedrohung oder sehe ich es als Herausforderung? Blocke ich es ab oder zieht es mich an?

Junge Leute sind neu in der Gesellschaft, und wie viele, die zum Beispiel einen neuen Job anfangen oder in eine neue Stadt kommen, stellen sie Fragen wie: "Warum ist das hier so? Kann man das nicht anders machen?" Für Leute, die schon lange mit dabei sind, bringt eine solche Frage, die Welt durcheinander. "Also, wir haben das schon immer so gemacht. Da könnte ja jeder kommen." Mickey Laze: "Die Schweizer haben Angst vor Neuem."

Das Problem: Erwachsene und Jugendliche gehen oft nur von sich aus, betrachten ihre Ansichten als Mass aller Dinge. Erwachsene bestimmen, was richtig, was falsch, was gute Musik und gute Freizeitbeschäftigungen sind. Sie verurteilen Hip-Hop und kriminalisieren Sprüher, ohne sich mit der Materie beschäftigt zu haben. Jugendliche distanzieren sich von der Erwachsenenwelt, gehen nicht auf Kompromissangebote ein: Erwachsenen, das haben sie oft erlebt, kann man nicht trauen.

Man denke an Krons schlechte Erfahrungen mit der Stadt, als sie den Sprühern für wenige Tage legale Flächen gab und es dann vor Polizisten nur so wimmelte. Solche Erfahrungen schlagen sich nieder in Diskussionen wie im Sommercasino zum Thema Graffiti, die von der BFA organisiert wurde. Bekannte Argumente für und gegen Graffiti wurden ausgetauscht. "Der Abend bringt eh nichts", sagte mir Kron. Danach schrieb ich in mein Tagebuch: "Das eigentliche Problem kam nicht zur Sprache: Dass Jugendliche nicht akzeptiert werden, wenn sie sich mit Sachen beschäftigen, die die Erwachsenen nicht kennen."

Pierre Clastres (1971) schrieb in einem seiner Essays der Sammlung "Staatsfeinde", in unserem Denken über Fremde bräuchten wir eine neue kopernikanische Revolution. Kopernikus hatte herausgefunden, dass die Erde nicht Zentrum, sondern nur ein Teil des Universums ist. Clastres kritisierte, dass wir die Fremden um uns, den angenommenen Mittelpunkt des Universums, kreisen liessen.

Eine kopernikanische Revolution brauchen wir, finde ich, auch in Jugendpolitik und Ethnologie. Wir müssen wegkommen von der Erwachsenen-Zentriertheit. Weder Erwachsene noch Jugendliche sind der Mittelpunkt, wir alle sind Teile einer Welt, die aus verschiedenen Individuen besteht. Wir müssen Begriffe und Theorien immer wieder neu testen: Stimmen sie noch?

Ich finde, der Wissenschaft täte eine Art von Nihilismus gut, wie ihn der norwegische Schriftsteller Jens Bjørneboe forderte. Mit Nihilismus meinte er "eine filosofische Richtung, die sich weigert, vererbte, weitergegebene und konventionelle Wahrheiten anzuerkennen, bevor man selbst deren Wahrheitsgehalt untersucht hat" (BJÖRNEBOE 1971/1989:157).

Ich denke vor allem an drei Begriffe: (1) Jugend, (2) Kultur, (3) Secundos.

Jugend

Was oder wer ist das überhaupt? Ist der Begriff wichtig? Sagt er etwas aus? Wieso benutzen wir ihn? Jugendkultur, Jugendgewalt - reden wir auch von Erwachsenenkultur und Erwachsengewalt? Warum nicht? Wer gehört überhaupt zur Jugend, wer nicht und warum?

Ich habe in der Arbeit vorgezogen, von jungen Leuten zu reden, und damit meinte ich Leute, die sich jung fühlen oder von anderen als jung angesehen werden. Die Jugend gibt es nicht, das sieht man gut, vergleicht man mal wieder Toni Brunner von der SVP mit Ursula Wyss von der SP.

Beide wurden sie vom Schweizer Fernsehen als jüngste Nationalräte portraitiert. Ursula, ungeschminkt, in einfachem Pulli und fliegenden Locken, gibt sich kämpferisch, will die Anliegen von Jugendlichen und jungen Müttern vertreten. Toni erscheint korrekt in Anzug und Krawatte und redet von Verantwortung für Tradition und Landwirtschaft.

Wir müssen fort kommen von der Definition des Jugendlichen als den Suchenden, Unfertigen, der noch nicht sein Bestes weiss. Viele Studien produzieren vorhersehbare Ergebnisse, weil sie nur das Eine interessiert: "Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität". Warum immer nur diese Negativ-Definitionen? Sind nicht viele Erwachsene noch auf der Suche? Warum nicht positiver: Jugend = eine Phase, wo man besonders spontan, flexibel, ideenreich, kreativ ist, offen für Neues. Und Erwachsensein = eine Phase, wo man in feste Bahnen kommt, bünzlig wird, faul und träge und skeptisch gegenüber Neuem. Jugendliche sind es, die Gesellschaft verändern, man denke an die 68er-Bewegung oder an die "Grünen".

Jugendliche, das sind Individuen mit ganz unterschiedlichen Interessen, Neigungen und Fähigkeiten, die etwas aus ihrem Leben machen wollen. So sollten sie in Forschung und Politik behandelt werden.

Kultur

Ein weiterer Grund, weshalb junge Leute in Forschung (oder auch Politik etc.) nicht ernst genommen werden, ist die Vorstellung einer homogenen (National-)Kultur, zu der sich junge Leute hin zu entwickeln hätten. Fälschlicherweise nehmen viele Leute an, es bestünde Einigkeit darüber, was zum Beispiel typisch schweizerisch oder baslerisch (deutsch, türkisch, indianisch etc) sei. Die Chancen sind (noch?) nicht besonders gross, dass in einer touristischen Fernsehsendung (oder ethnografischen Abhandlung) über Basel die "Line", diese kilometerlange Aneinanderreihung von Graffiti-Kunstwerken in der Einfahrt zum Bahnhof SBB, gezeigt wird, eher das Münster, der Rhein, die Fasnacht.

Jede Gesellschaft besteht aus mehreren kulturellen Traditionen. Zwischen ihnen wird ständig ausgehandelt, was nun das ist, was "unsere Kultur" genannt wird. Die Definitionsfrage ist immer auch eine Machtfrage, und da junge Leute weniger Macht haben, werden sie weniger gehört und werden auch weniger in Forschungen repräsentiert.

Arild Hovland (1996) ging diesem Problem in seiner Forschung über samische Jugendliche in Nordnorwegen nach. Er zeigt in seinem Buch auf, wie unterschiedlich samische Jugendliche und Erwachsene über ihre Rolle als Samen denken und welche Konflikte daraus resultieren: Muss ein(e) Sami Rentiere haben? Darf er oder sie auf eine House-Party gehen? Viele junge Sami leiden unter dem unter städtischen Intellektuellen so verbreitetem Postulat, junge Leute sollten "die samische Kultur und Tradition weiterführen", denn es sei ja so schade, wenn sie "ihre Kultur und Identität verlieren" würden.

Auch viele junge Leute mit ausländischen Eltern, die aber in der Schweiz aufgewachsen sind, haben unter diesem Problem zu leiden. Sie werden "2.Generations-Ausländer" oder "Secundos" genannt, mein dritter Begriff.

Secundos

Ihre Eltern hätten gerne, dass sie so leben "wie ein guter Türke" oder "wie eine gute Italienerin". Sie sind jedoch hier aufgewachsen und möchten ihr eigenes Ding machen. Türken schicken ihre Kinder in Sonntagsschulen, damit sie "ihre Identität kennenlernen", wie ein türkischer Konsul sich mal ausdrückte. Die hiesigen Behörden nehmen Partei für die Eltern, denn es geht ja darum, "die Kultur der Einwanderer zu bewahren", und das ist ja im Sinne des politisch korrekten Multikulturalismus.

Basels deutsche Nachbarstadt Lörrach veranstaltete vor ein paar Jahren eine gut gemeinte Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Zwischen zwei Welten - türkisches Leben in Lörrach". Ich besuchte eine Veranstaltung über türkisches Essen. Junge Türkinnen kochten und boten Kostproben an. Ich fragte sie, ob sie das Essen selber auch kochen und essen würden. Nix da! Sie essen am liebsten italienisch oder chinesisch und kochten das zum ersten Mal.

Man gesteht diesen "Secundos" nicht zu, dass sie etwas Neues, etwas Eigenständiges sind und nicht nur die Kopien ihrer Eltern. In der Wissenschaft wird diese Gruppe nicht besser behandelt. Für viele Forscher steht im vornherein fest, dass ihr Status als "Secundo" etwas Negatives ist. Secundos haben per Definition ein Problem mit ihrer Identität. Sie sind nämlich, meinen die Wissenschaftler, "hin- und hergerissen zwischen beiden Kulturen": der ihrer Eltern und der des Landes, in dem sie jetzt wohnen. Dies wird so oft wiederholt, dass die "Secundos" am Schluss wirklich glauben, mit ihnen stimme etwas nicht.

Viele der Hip-Hopper sind "Secundos", viele hatten in der Tat Mühe mit ihrer "Identität", doch dies in erster Linie, weil es von der Öffentlichkeit zu einem Problem gestempelt wurde. Unni Wikan (1995) beschäftigt sich in einem Buch über Einwanderung mit dem Thema. Sie liefert ein eindrückliches Beispiel.

Ein elfjähriger Junge hatte Eltern, die, seit er fünf war, geschieden waren, aber er hatte ein ausgezeichnetes Verhältnis zu beiden. Eines Tages veranstaltete seine Schule einen Thema-Tag über Scheidungskinder. Nach dieser Veranstaltung kam der Junge heim zu seinem Vater und sagte: "Du Papa, bin ich ein Scheidungskind?" (WIKAN 1995:57).

ACE mochte meine Frage, ob er sich nun türkisch oder schweizerisch fühle, nicht besonders: "Die Frage setzt mir Grenzen." Er sieht sich selbst als etwas "Undefinierbares", Eigenständiges, das sich nicht mit Nationalität beschreiben lässt.

Tarek hat mit zunehmenden Alter eingesehen, dass "Arabisch", "Deutsch" und "Schweizerisch" keine unüberbrückbare Gegensätze sind. Jetzt nutzt er seinen gemischten Hintergrund bewusst, kombiniert, ist stolz darauf.

Puccio geht "das Gerede von Staat und Identität" auch auf den Geist. Es mache die Leute dumm, findet er, verstelle den Blick auf Wichtigeres. In mehreren Gesprächen drücken Hip-Hop-Künstler ihre Abneigung gegenüber Grenzen aus, erzählen davon, wie sie sie in ihrer Entfaltung hindern.

Genauso wie "Schicht" müssen wir "Herkunft" neu definieren. Die Begriffe dürfen nicht länger allein an den Eltern festgemacht werden. Eins sind Basels Hip-Hopper auf jeden Fall: waschechte Basler. Und vor allem sich selbst!


Bibliografie

Hier liste ich die bei der Arbeit verwendeten Artikel, Bücher sowie Texte aus dem Internet auf. Kommentare zu ausgewählten Texten befinden sich in Kapitel 2 Drei Jahre nach Schreiben der Arbeit sind erstaunlich viele neue Studien hinzugekommen. Ich habe die Links Ende Dezember 2002 aktualisiert (» gehe direkt zu den Links).

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(letzter Link-Check: 30.3.04)

Neuere Hiphop Seiten

Europäische Rap-Forschung (Projekt)

Geschichte der HipHop-Kultur (Freie Universitaet Berlin)

Graffitis von der ganzen Welt

Neues Forum Rap City.de

(siehe auch Eintragungen im Gaestebuch)

Basel und Schweiz / Artists

Aightgenossen - Online Schweizer HipHop-Zeitschrift

Das Swiss Special auf hiphop.de

Skelt(igeron) und P27

Defcut's Homepage

Tafs' Homepage

ACE's Homepage

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News ueber die Leute, die ich interviewt hab, fuege ich regelmaessig auf den jeweiligen Seiten am Ende des Interviews ein - siehe Interview-Uebersicht

Basel und Schweiz / Andere Seiten

Eine neue Generation von Rapperinnen (WoZ, 28.11.02)

Seite über das Hip-Hop-Theaterstück GleisX (skelt.ch)

Bilder von einem Jam im Sommercasino (sommercasino.ch)

Baselbieter HipHop (Portal)

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Ich habe im Maerz 2004 eine neue Ethno-Seite mit Nachrichten und Linksammlung erstellt.

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